Donnerstag, 8. Juni 2023

Teil 2: Deutsche und Polen - Die Sichweisen divergieren

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Die Sicht der anderen - die nachgerückten Polen

Gerade lese ich ein interessantes Buch. Es erzählt die Erfahrungen der nach der Flucht/Vertreibung der Deutschen in Schlesien eingewanderten Polen.

Karolina Kuszyk: In den Häusern der anderen. Spuren deutscher Vergangenheit in Westpolen, Berlin 2022 (Ch.Links Verlag).

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Das polnische Original (links) und die deutsche Übersetzung von Karolina Kuszyks Buch (Bildquelle: Polskie Radio, Deutsche Redaktion)
 

Es war für die Deutschen schmerzlich, Heimat, Besitz und die vertrauten Dinge in den Wohnungen zurücklassen zu müssen. Hinzu kammen die Mißlichkeiten bei der Flucht und an den neuen Aufenthaltsorten. Einen Weg in die Ungewißheit, das "Unbehaustsein", die "Fremde" anzutreten - noch dazu unter Kriegsumständen - ist eine große Belastung. Ohne Zweifel waren die Vertreibung und die faktischen Enteignungen ein Unrecht. Das ist eine Sicht der Geschehnisse. Dies war die Sicht der Vertriebenenverbände in der Nachkriegszeit. Dabei wurde oft übersehen, dass die Vertreibung eine Folge dessen war, was Deutsche im Nationalsozialismus anderen angetan hatten. Es waren entsetzliche Grausamkeiten, die die Nazi-Machthaber, SS und deutsche Soldaten Juden, Polen, Russen und anderen zugefügt haben.  Die Zeugenaussagen liegen vor und sind nicht zu leugnen. So ist es nicht verwunderlich - wenn auch nicht zu rechtfertigen -, dass von polnischer, sowjetisch-russischer und anderer Seite oftmals barbarisch Rache geübt wurde. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf ein sorgfältig recherchiertes Buch mit ausgewogenem Urteil, das die Vertreibung der Deutschen aus Ostpreußen schildert, der Heimat meiner väterlichen Vorfahren: Hermann Pölking, Ostpreussen, Biographie einer Provinz, Berlin-Brandenburg 2012 (Be.bra Verlag). 

Ich möchte die von Deutschen begangenen Kriegsverbrechen nicht relativieren, aber man darf sich keinen Illusionen hingeben, Krieg enthemmt Kämpfende - und auch andere Beteiligte - immer und auf allen Seiten. Ausnahmen gibt es, aber sie verhindern nicht den jedem Kriegsgeschehen innewohnenden Sog zu Eskalation und Übergriffen. Rassistische Ideologie wie der Nationalsozialismus oder der als Mission der Sowjetunion aufgefasste stalinistische Kampf gegen den deutschen Faschismus radikalisieren die Enthemmungstendenz und liefern Tätern eine Rechtfertigung. Die Bereitschaft an Kriegen teilzunehmen lässt sich überhaupt nur durch ideologische Motive wecken und aufrechterhalten (Errichtung eines "Feindbildes", Begründungen wie "Vaterland", "unsere Werte" "verteidigen" ... ). 

Karolina Kuszyks Buch füllt eine Lücke oder Leerstelle in der deutschen Wahrnehmung von Flucht und Vertreibung aus. Es bestand in Deutschland lange kein großes Interesse daran, zur Kenntnis zu nehmen, wie es den Menschen ging, die in die von uns zurückgelassenen Gebiete einrückten, was sie in ihrer neuen Lebensumwelt fühlten, dachten und wie sie mit ihren neuen Lebensverhältnissen zurechtkamen. Man erfuhr und wusste bei uns bisher wenig darüber. Kuszyk schildert ausführlich und anschaulich Erfahrungen und Sicht der "anderen", der Polen, die, meist selbst aus ihrer ursprünglichen Heimat vertrieben, in den vorher deutschen Gebieten zwangsweise angesiedelt wurden.  Auch ihr Erleben und ihre Sichtweise gehört zu den Ereignissen der Kriegsfolgen und muss ergänzend zum Erleben und der Sichtweise der vertriebenen Deutschen gesehen werden.

Die "Wiedergewonnenen Gebiete", wie sie regierungsamtlich genannt wurden, waren für die Einwanderer "Neuland". Die angeführte "Piastenvergangenheit" lag lange zurück und bot keine lebendigen Anknüpfungspunkte mehr. Die Neusiedler fanden auch keine "Tabula rasa" vor, sondern ein Land voller deutscher Hinterlassenschaften. Niederschlesien war kein "wilder Westen", in dem sie (vermeintlich oder tatsächlich) unbelastet von fremder Vergangenheit ein neues Leben entsprechend ihrer Herkunft und Lebensweise hätten aufbauen können. Sie mussten sich im Vorgefundenen einrichten. Die meist Mittellosen waren darauf angewiesen, deutschen Besitz, deutsche Häuser und deutsche Gebrauchgegenstände zu übernehmen. Die polnische Regierung legalisierte dies, unter anderem durch den Verkauf des vorgefundenen und in Anspruch genommenen Besitzes. Damit zu leben, war nicht einfach für die Neuankömmlinge; der Umgang mit den "ehemals deutschen"(poniemieckie) Dingen löste zweispältige Gefühle aus. Er stellte die polnische Identität der neuen Eigentümer und Benutzer in Frage.  Zusammen mit der von der kommunistischen Regierung dekretierten "Repolonisierung"   der "Wiedergewonnenen Gebiete" führte das vielfach zur Zerstörung deutschen Kulturguts und oft sinnlosen Auslöschung von Erinnerungszeichen an die deutsche Vergangenheit. Verständlicherweise erinnerte man sich nicht gern an die deutschen Besatzer, wenn man aus der Ukraine oder Zentralpolen kam. Und manche Überbleibsel der Deutschen konnte man gut für andere Zwecke verwenden, zum Beispiel Friedhöfe und Grabsteine.

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Vertriebenendasein auch unter Polen: Polnische Familie nach Kriegsende in vermutlich ehemals deutscher Wohnung in Liegnitz/Legnica (?). (Bildquelle: ntv-Artikel)
 

Erst in der zweiten Generation begann man deutsche Hinterlassenschaften zu schätzen, Zeugnisse der deutschen Geschichte wiederherzustellen und zurückgelassene Gebrauchsgegenstände zu sammeln; es wurde geradezu Mode, nach verborgenen deutschen "Schätzen" zu suchen und vermuteten "Geheimnissen" nachzugehen - mit nach wie vor ambivalenten Gefühlen.

Vergegenwärtigt man sich all die Belastungen des deutsch-polnischen Verhältnisses, sind die oft schon frühen Bemühungen von Polen und Deutschen zur Versöhnung beizutragen und einen Schlusstrich unter die Vergangenheit zu ziehen umso mehr zu schätzen - unter ihnen die freundschaftlichen Beziehungen meiner Mutter zu der polnischen Familie in unserer früheren Breslauer Wohnung. Bei meinem Besuch in Wroclaw-Breslau habe ich erfahren, dass man mir als Deutschen freundlich und aufgeschlossen begegnet, auch die deutsche Vergangenheit nicht mehr unterschlägt, vieles davon restauriert hat, wobei durchaus wieder der deutsche Ursprung erkennbar ist.

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Gedenktafel am Geburtshaus Bonhoeffers, Bartel-Straße 7 in Breslau - zweisprachig (Bild: Wikipedia.org, Bonio)
 

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Die "alte Heimat" ist verloren ....

Die "alte Heimat", Lebensraum, in denen die zwangsweise Ausgesiedelten geboren wurden, aufwuchsen und einen großen Teil ihres Lebens verbracht hatten, wo ihre Vorfahren seit Generationen saßen, wo sie in Beziehungen zu Menschen, Dingen, Orten, Landschaften, Geschichte, persönlichen und überpersönlichen Geschichten und Traditionen standen, kurz wo sie sich "zuhause" fühlten, ist für sie verloren.  

Wir, die wir in den verlorenen Räumen geboren sind, aber uns nicht mehr in ihnen einleben konnten, mussten zwar auch eine vertraute Umgebung verlassen, aber Heimat wie für unsere Eltern war das nicht. Uns wurde die Möglichkeit genommen, in die für uns vorgesehene Heimat hineinzuwachsen. Zwar lebt die Herkunft in uns weiter, in Erinnerungen, Erzählungen, Bildern und wohl auch in physisch-psychischen Dispositionen. Aber das reicht nicht aus, um ein Heimatgefühl zu erzeugen. Hinzu kam, dass wir als junge Menschen, die eine Zukunft auf anderem Boden vor sich hatten, es eher belastend als lebensförderlich empfanden, auf eine Heimatwelt festgelegt zu werden, die wir als solche kaum bewußt wahrgenommen hatten und die nur noch in Erinnerungen oder Traditionspflege weiterlebte. Die    Ausgrenzung, die wir als Flüchtlinge erfuhren, war auch nicht dazu angetan, die Bindung  an unsere Herkunftsumstände zu fördern.  

So wurde uns das Schicksal auferlegt "heimatlos" zu sein - zumindest im territorial-regionalen und landsmannschaftlichen Sinne. Wo wir auch Fuß fassten, nie waren wir "Einheimische", nie konnten wir uns ganz mit Land, Leuten und ihren Besonderheiten identifizieren. Auch wir mussten - auf unsere Weise - Folgen des Verlustes der Heimat unserer Eltern tragen. (Ich sehe das aber nicht nur negativ. Wo andere an ihrer "Scholle" klebten, waren wir beweglicher und konnten überall unser Domizil aufschlagen. Außerdem öffneten wir uns größeren Zusammenschlüssen, wie Europa.)

Auch wenn die Vertreibung ein Unrecht mit schmerzlichen Folgen war - jede Forderung oder Bemühung zur Rückgewinnung der verlorenen Gebiete würde zu nichts als weiterem Unrecht führen. Es ist gut, dass deutsche Politik auf die verlorenen Ostgebiete verzichtet und die durch den Krieg geschaffenen Grenzen anerkannt hat. Nicht zuletzt hat die Evangelische Kirche in Deutschland mit ihrer "Ostdenkschrift" (1965) dazu beigetragen, indem sie nicht nur die Verletzung der Rechte der Vertriebenen anerkannte, sondern auch die berechtigten Interessen der östlichen Nachbarstaaten und damit das Bleiberecht der nach 1945 angesiedelten Bevölkerung in den Blickpunkt rückte. Statt gegenseitiger Schuldzuweisung, Revanche und Beharrung auf jeweiligen Rechtspositionen plädierten die Verfasser der EKD-Denkschrift für Ausgleich und Partnerschaft:

"Es gibt, auch ganz abgesehen von der Schuldfrage, berechtigte Interessen der Völker, zwischen denen eine gerechte Ordnung einen Ausgleich schaffen muß."

„Der wirkliche Neubeginn eines nachbarschaftlichen Verhältnisses kann nur in einer echten Partnerschaft bestehen, bei der auch die Wirklichkeit der gegenseitigen Schuldverstrickung ins Blickfeld tritt und die darum auch nicht auf einseitigen Akten der Vergeltung und der Gewalt basiert ..."

Mir war schon als Jugendlicher klar, dass die entstandenen Realitäten nicht mehr zu ändern sind und ein tragbares Verhältnis zu Polen nur mit dem Verzicht auf die alte Heimat hergestellt werden kann, obwohl mich das nicht hinderte, in jungen Jahren an Schlesiertreffen teilzunehmen und schlesisches sowie ostpreußisches Erbe geistig bis heute zu bewahren.

Blicke ich zurück auf das Verhältnis zu den Herkunftsregionen meiner Ursprungsfamilie, so stelle ich fest, dass sie mir in meiner Kindheit durch die Gegenwart und Erzählungen meiner Eltern und ihrer Schicksalsgenossen näher waren als später. Im Erwachsenenalter interessierten mich die Orte und Räume, in denen meine Eltern und Vorfahren lebten, wenig. Erst im Alter habe ich mich intensiver damit befasst. Heute fühle ich mich auf untergründige Weise mit den Generationen vor mir und der Erde, auf der sie ihr Leben gestalteten, verbunden. Wir existieren nicht nur als unabhängige Individuen, sondern sind auch in eine Generationenfolge eingebunden. Ich bemerke an mir und in mir Züge und Prägungen, die ich mit Vorfahren teile und selbst fortführe. Über die die Familiengeschichte hinaus nehmen wir an kollektiven Ereignisfolgen teil. Beides ist "schicksalhaft", fordert aber Auseinandersetzung und eine eigene Verhältnisbestimmung.

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... doch eine konstruktive Sichtweise ist möglich - und was sie verhindert

Verbunden fühle ich mich auch in einer übergreifenden Weise mit den Menschen, die heute dort leben, wo meine Eltern und Vorfahren ihr Zuhause hatten.  Die Heutigen leben auf gemeinsamen Grund mit ihren Vorgängern und sind mit ihnen in eine Geschichte verwoben, die zwar durch heftige Antagonismen, aber auch durch gemeinsame Bezüge und verbindende Zusammenhänge gekennzeichnet ist - abgesehen vom allgemein-menschlichen Irren und Sich-Bewähren, das alle Menschen verbindet. Lange hat man zwischen vertriebenen Deutschen und eingewanderten Polen die Differenzen, die gegensätzlichen Positionen, das anscheinend Unüberbrückbare hervorgehoben. Man kann auch die Perspektive ändern und das Verhältnis beider Kollektive zueinander als Schicksalgemeinschaft betrachten, in der ein angemessener Umgang miteinander Sensibilität, Verständnis, Dialog und gegenseitige Rücksichtnahme erfordert. Ich freue mich, dass ich diese Sichtweise in dem Buch der polnischen Autorin Kuszyk finde und ich teile sie mit ihr.

Für ein gutes Zusammenleben von Menschen ist es wichtiger, das Verbindende zu suchen, als das Trennende herauszustellen. Das gilt auch für das Verhältnis von Völkern untereinander. Nach den Verheerungen, die der auf Trennungen bedachte Nationalismus angerichtet hat, müsste es eigentlich unübersehbar sein, dass diese Ideologie ein Unheilsweg ist. Es gibt keine Nation, die nur stolz auf sich sein kann, kein Volk hat Grund sich selbst zu verklären und absolut zu setzen. Es führt zu keinen guten Ergebnissen, wenn das Bemühen um partnerschaftliche Verhältnisse zu anderen Völkern aufgegeben wird, um die Größe und das Selbstbild des eigenen Volkes zu erhöhen.

Schwer verständlich finde ich es dann, wenn die derzeitige nationalkonservative Regierung Polens wieder einen "bizarren" Nationalismus (H.J.Ginsburg) betreibt - mit dem "Feindbild Deutschland" - und die gigantische Summe von 1,3  Billionen Euro an Reparationszahlungen  für die im zweiten Weltkrieg von Deutschland angerichteten Schäden und Verbrechen fordert. 

(Link zu einem Aspekt der  offiziellen polnischen Sicht hier. Eine ausführlichere und differenzierte Darstellung der polnischen Position von einem Historiker hier. Der knappe und instruktive Artikel eines Rechtsanwaltes zeigt die Rechtslage, aber auch ihre Grenzen auf - hier.) 

Diese Schäden und die damit verbundenen Menschenrechtsverletzungen waren tatsächlich immens. 

"Es gibt kaum eine Familie an Oder und Weichsel, die nicht auf eine durch das Nazideutschland verursachte Tragödie zurückblicken würde."

schreibt der aus Polen stammende Blog-Redakteur Bogumił Pałka  und er wünscht sich, "es würde mehr ins Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit rücken", was die deutsche Besatzungszeit für Polen mit sich brachte.

Offenbar unterstützt ein großer Teil der polnischen Bevölkerung die Forderung nach Reparationen. Man meint, Deutschland sei "zu billig" weggekommen.  

Demonstrierende fordern 2018 vor der Kanzlei des Ministerpräsidenten in der polnischen Hauptstadt Warschau Reparationen. Quelle: ZDF / picture alliance/dpa / Bernd von Jutrczenka
 

Kriegsverbrechen verjähren nicht und man sollte sie auch nicht vergessen. Aber 78 Jahre nach Kriegsende dafür in dieser Weise dafür Entschädigungen zu verlangen, ist für mich ein revanchistischer Rückfall, nicht zukunfts-, europa- und versöhnungsorientiert - von anderen Einwänden abgesehen. 

Man könnte im Gegenzug zur Argumentation der polnischen Regierung darauf hinweisen - wenn man sich auf das unnütze Spiel des gegenseitigen Aufrechnens einlässt - dass durch die Vertreibung der Deutschen und die Aneignung deutschen Besitzes, darunter dem meiner Eltern, Großeltern und Vorfahren, immense Werte in polnischen Besitz übergegangen sind.  Auch die Vertreibung der Deutschen, die damit verbundenen Unrechtstaten und die Inbesitznahme deutschen Eigentums  verstießen gegen völker- und menschenrechtliche Bestimmungen (Recht auf Selbstbestimmung, Leben, Heimat und Besitz). Sie könnten rechtlich begründbare Entschädigungsforderungen  auf deutscher Seite nach sich ziehen. Darauf haben deutsche Regierungen besonnennerweise verzichtet. Auch der Mehrheit der noch lebenden Vertriebenen und ihren Nachkömmlingen - so auch meinen Eltern, mir und meinen Kindern - lag und liegt es ferne, solche überholte Forderungen zu stellen.

Aber was soll´s ? Das gegenseitige Aufrechnen von Unrecht und Verbrechen führt zu keiner Verbesserung des Verhältnisses von Polen und Deutschen. Es gibt andere Wege, das Polen, aber auch Deutschen angetane Unrecht anzuerkennen und aus dem Bannkreis alter Schuld herauszufinden als das Feilschen um unzeitgemäße Entschädigungszahlungen.

"Es geht nicht darum zu feilschen, wer denn mehr gelitten habe und welche Ansprüche berechtigter seien. Eine solche Auseinandersetzung würde keine Lösungen herbeiführen und erst recht keine Versöhnung." (Bogumił Pałka)

Der Autor meint, im Grunde ginge es vielen Polen, die Kriegsreparationen befürworten, nicht "unbedingt um das monetäre", sondern um die Förderung der Wahrnehmung und Anerkennung des den Polen angetanen Unrechts in der bundesrepublikanischen Gesellschaft.

Hierzu möchte ich fragen - als Wohlmeinender, nicht als "Besserwisser" - ob es nicht für die polnische Gesellschaft an der Zeit wäre, die Dauerfixierung auf die Kriegsereignisse kritisch zu reflektieren, um sie eventuell loslassen zu können und sie nicht immer weiter perpetuieren zu müssen. Polen hat es nicht mehr nötig, sich mit Hilfe eines Feindbildes zu konsolidieren! Ein solcher Prozess der Selbstbesinnung sollte allerdings nicht einseitig bleiben, sondern Selbstüberprüfung und taktvolles Entgegenkommen in Deutschland finden.

Ob die deutsche Regierung mit ihrer  - bisher unveröffentlichten - offensichtlich sehr formal abgefassten, rein rechtlich begründeten und wohl im harschen Ton gehaltenen Antwortnote auf die  Reparationsforderungen ("abgeschlossen") den hinter dem Komplex liegenden ernst zu nehmenden Motiven in Polen gerecht wurde, ist zweifelhaft. Sachlich mag die Ablehnung berechtigt gewesen sein, diplomatisch war sie nicht. Annäherung oder gar Versöhnung wird so nicht erreicht. Die politisch-rechtliche Frage der Reparationen lässt sich abschließen, das Bemühen um Menschlichkeit und Gerechtigkeit nicht!

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Nationalismus und Hegemoniestreben verhindern partnerschaftliche Zusammenarbeit

Es bleibt auf beiden Seiten einiges zu tun, um die divergierenden Sichtweisen auf die offenbar immer noch kollektiv "unbewältigte" Vergangenheit in ein tragfähiges Miteinander im "Projekt Europa" zu überführen. Beide Völker sind darauf angewiesen ihr Verhältnis zueinander zu klären und zu verbessern. Sie sind in vieler Hinsicht aufeinander angewiesen (Wirtschaft, Verteidigug, Integration der größten Minderheit in Polen - der Deutschen, grenznahe Zusammenarbeit u.a.) Polnischer Nationalismus, aber auch deutsches Hegemoniestreben sind ein Hindernis auf diesem Wege. Sie verhindern ein partnerschaftliches Verhältnis - und nur das führt aus den schwierigen Beziehungen, die zumindest die Politik beider Länder prägen (wirtschaftlich, im privaten und zwischgesellschaftlichen Raum läuft es besser). 

Glücklicherweise zeigt sich, dass nicht alle Polen dem nationalistischen und demokratische Prinzipien verletzenden Kurs ihrer Regierung folgen wollen. In Deutschland wächst das Verständnis für die polnische Befindlichkeit und die Notwendigkeit die Divergenzen zu überwinden. Das lässt mich hoffen, dass das politische Auseinanderdriften zweier Nachbarstaaten wieder zu einem Prozess der Annäherung gewendet werden kann, wie es der deutsch-polnische Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit von 1991 vorsah.

Dennoch: das Wiederaufleben nationalistischer und geschichtsrevisionistischer Bestrebungen in europäischen Staaten, zum Teil verbunden  mit Ansprüchen auf ehemals zugehörige Gebiete und der Forderung nach Wiederherstellung früherer Grenzen, auch in Deutschland durch Radikalrechte und "Reichsbürger", macht mir Sorge. Diese Bestrebungen sind geeignet, das für uns notwendige, mühsam errungene, aber zerbrechliche konstruktive und friedliche Zusammenleben in Europa zu untergraben.

 


 

  














Montag, 14. November 2022

Teil 1: Erinnerungen an den Krieg, die Vertreibung aus Schlesien 1945 und die Nachkriegszeit

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Der Ukrainekrieg lässt bei mir Erinnerungen wach werden,   Erinnerungen an Bombardierungen, Tieffliegerangriffe, Erlebnisse auf dem Weg der Flucht aus meiner Geburtsstadt Breslau.

Ich wurde 1940 geboren, im 2. Kriegsjahr. Nach der Niederlage Polens marschierten deutsche Soldaten in Norwegen, Dänemark, den Beneluxstaaten und Frankreich ein. Die deutsche Luftwaffe griff britische Streitkräfte an und bombardierte englische Städte.

In Breslau war allerdings lange wenig von Kriegseinwirkungen zu spüren. Die Stadt galt als „Luftschutzbunker Deutschlands“ und war mit allem Lebensnotwendigen versorgt. 

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So lebten wir in Breslau vor der Vertreibung

Natürlich habe ich keine Erinnerungen an meine ganz frühe Kindheit. Meine Kenntnisse bis zu den ersten Erinnerungen beziehe ich aus Fotoalben, die meine Mutter für mich anlegte und aus Erzählungen meiner nun längst verstorbenen Eltern.

Wir wohnten in einer geräumigen Drei-Zimmer-Wohnung mit Küche, Diele und Bad in der Hedwigstraße (heute „Sportowa). Der Teil des großen Mietshauses, in dem sich unsere Wohnung befand, überstand die Bombardierungen gegen Ende des Krieges. Ich habe das Haus bei meinem Besuch Wroclaws im Jahre 2013 aufgesucht - zusammen mit einem meiner Söhne. Der einst schöne, im Gründerzeitstil errichtete Gebäudeteil machte einen heruntergekommenen Eindruck. Schreitet man über den im Boden vor dem Eingangsportal eingelegten Gruß „Salve“ hinweg. kommt man in einen abgerissenen Flur, der zum Treppenhaus führt, auch dieses im desolaten Zustand. Wir sind die Wendeltreppen zu unserer früheren Wohnung hinaufgestiegen. Es gab immer noch die alte repräsentative Eingangstür aus Holz. Leider öffnete niemand auf mein Klingeln oder Klopfen, so dass ich keinen Blick in die Räume meiner ersten Kindheit werfen konnte. 

Vielleicht war das auch ganz gut so, denn ich kann mir vorstellen, dass die heutigen Bewohner den Besuch eines unbekannten Mitglieds der ehemaligen deutschen "Besitzer"-Familie mit gemischten Gefühlen aufgenommen hätten (siehe den "Nachtrag" zu diesem Artikel, in dem ich auf die Sicht der "anderen Seite", nämlich den der nach 1945 eingewanderten Polen eingehe).

Meine Schwester und ich 1943 vor dem Hauseingang - Im Hintergrund der im Boden eingelegte Gruß "Salve" - Bilder werden durch Anklicken vergrößert
 

Der Hauseingang 2013

Die im Boden eingelegte Begrüßung gibt es immer noch


Alte Klingeltafel am Haus - Hier war einst unser Namen zu lesen

Vor der Eingangstür zu unserer früheren Wohnung

Meine Mutter hat – als dies möglich war – von unserer neuen Heimat in Plochingen bei Stuttgart aus - die alte Wohnung mehrfach besucht und mit den neuen polnischen Bewohnern freundliche Beziehungen geknüpft. Auch sie waren „Vertriebene“, die aus von der Sowjetunion annektierten Gebieten Polens kamen. Sie erzählten meiner Mutter, dass sie die Räume in total verwüsteten Zustand bezogen hätten. Russische Soldaten hatten die Wohnung geplündert und alles, was nicht niet- und nagelfest war, mitgenommen. Es seien "Barbaren" gewesen, die nicht einmal ein Spülklosett kannten und dieses als Trink- und Waschwasserspender benutzten. Anschließend zerschlugen sie das Becken.

Ich habe die Wohnung in meinen ersten, lückenhaften Erinnerungen mit ihren schweren Möbeln, gemusterten Tapeten und konventionellen Wandbildern als ziemlich dunkel in Erinnerung. Im Flur hing ein Bild Hitlers, wohl in Uniform, das Besuchern signalisieren sollte, hier wohnen unverdächtige Leute. Wie meine Mutter erzählte, habe ich mich manchmal vor dem Bild aufgebaut, die Hand grüßend an den Kopf gelegt – wie ich es bei Erwachsenen sah – und „Heil Papa“ gerufen. (Der wirkliche „Papi“ trug zu dieser Zeit Uniform und war dienstlich oft abwesend.)  

Beeindruckt hat mich auch der große „Eisschrank“ in der Küche oder im Keller. Regelmäßig brachte ein Kutscher große Eisblöcke, mit denen das Ungetüm gefüttert wurde.

An meinem 3. Geburtstag mit Mutter und Schwester in der Wohnung

Wenn man die Bilder in meinem Kinderalbum anschaut, bekommt man den Eindruck, meine Eltern und wir Kinder – 1942 wurde meine Schwester geboren – lebten in einer friedlichen, heilen Welt.

Ich sehe mich bei Geburtstagstischchen mit Geschenken stehen, staunend auf geschmückten Weihnachtsbäumen blicken, auf dem Weg zum „Scheitniger Park“ (heute Szczytnicki) neben meiner Schwester im Kinderwagen laufen, geführt von einem „Pflichtjahrmädchen“. Andere Bilder zeigen uns im Breslauer Zoo, in Badeanstalten und „Luftbädern“, immer umsorgt von einer liebevollen und beim Ausgehen modisch aufgemachten jungen Mutter oder auch – zeitweilig - begleitet von einem stolzen Vater, dieser oft in Leutnantsuniform.

Weihnachten 1941

Im Breslauer Rosengarten 1941

Fahrt mit der Poykutsche im Breslauer Zoo 1942 (rechts meine Mutter, ich 3. Kind von rechts).

Verschiedene dieser Stätten in Breslau habe ich bei meinem Besuch wiedergefunden, so den Park Szczytnicki und den Zoo, der noch das alte Eingangsportal zeigt. Dabei konnte ich mich auch an Kindheitserlebnisse erinnern, zum Beispiel die Begegnung mit einem Elefanten, den meine kleine Schwester mit einem Stöckchen geärgert hatte und der sie dann bei unserem nächsten Besuch unversehens nass spritzte.  

Eingang zum Breslauer Zoo - Unten: Graffitis an Zoomauer


Weitere Bilder in meinem Kindheitsalbum zeigen Aufnahmen von uns Kindern mit unseren Großeltern mütterlicherseits, die im niederschlesischen Oels lebten (eine halbe Stunde Zugfahrt von Breslau entfernt). Ich sehe den lächelnden Opa umringt von seinen Enkeln, von denen ich der älteste war, im begrünten Hof des Hauses sitzen. Immer trug der pensionierte Eisenbahner Krawatte, dunkle Anzugsweste und -hose, von denen eine goldene Taschenuhrkette herabbaumelte – würdiger Vertreter einer vergangenen Zeit. (Stolz erzählte er, dass er beim Bau der Bagdad- Bahn beteiligt war). Ein anderes Bild zeigt ihn und meine Großmutter – sie im Schürzenkleid – meine Schwester und mich auf den Schultern tragend bei der Rückkehr von ihrem Garten. Ich erinnere mich, dass Opa mich zu seinen Bienenstöcken im Garten führte und mir die Imkerei erklärte. 
 
Die Oelser Großeltern mit meiner Schwester und mir

 
Der Opa mit seinen Enkeln 1942

Auch Olesnica haben mein Sohn und ich 2013 besucht – interessant war für mich, der ich in Württemberg aufgewachsen bin, dass Oels zeitweilig mit Württemberg verbunden war, unter dem Herzog von Württemberg-Oels Silvius Nimrod und seinen Nachfahren, von 1648 bis 1792. Der von mir geschätzte Mystiker Johannes Scheffler (Angelus Silesius) lebte als Leibarzt am Hofe Nimrods.

Später wurde Oels preußisch. Das Schloss bestimmte man zum Sitz des jeweiligen Kronprinzen von Preußen. Meine Mutter berichtete von Begegnungen mit dem wegen seiner Unterstützung des Nationalsozialismus umstrittenen Kronprinzen Wilhelm und seiner Frau Cecilie sowie ihrem zweitältesten, mit meiner Mutter ungefähr gleichaltrigen Sohn Louis Ferdinand, später Chef des Hauses Hohenzollern.  Meine Mutter und ich wurden in den 50-ziger Jahren bei einem Oelser Treffen in Hechingen und auf der Burg Hohenzollern, dem Stammsitz des preußischen Königshauses und der Fürsten von Hohenzollern, persönlich von Louis Ferdinand begrüßt, wobei dieser anscheinend meine Mutter wieder erkannte und mit ihr ein paar Worte über gemeinsame Jugendzeiten in Oels wechselte. Übrigens haben wir auch vor den damals in der Christuskapelle der Burg untergebrachten Särgen Friedrichs des Großen und seines Vaters, des „Soldatenkönigs“, diesen für Schlesien bedeutsamen Gestalten, unsere Reverenz erwiesen.

Oels wurde wie Breslau am Kriegsende weitgehend zerstört, bis auf das Schloss, die deutsche Bevölkerung, auch unsere Großeltern, vertrieben. Mein Großvater starb auf der Flucht in Komotau (heute Chomutov/Tschechien) an einem Herzschlag, wo er wohl auch begraben werden musste, meine Großmutter mit der Schwester meiner Mutter und ihrem Sohn landeten in der „sowjetisch besetzten Zone“, in der Lausitz. Von dort aus besuchte Großmutter uns, die wir in der „Westzone“ Fuß gefasst hatten, verschiedene Male. Dies wurde ihr von den DDR-Behörden wegen ihres Alters erlaubt.

Bei unserem Besuch in Olesnica, dessen historische Gebäude wie in Breslau teilweise wieder aufgebaut wurden, haben wir nach längerem Suchen die Eisenbahnersiedlung, in denen meine Großeltern lebten, gefunden, in der Nähe des Bahnhofs. Ich meine das  wiedererrichtete Haus, den Hinterhof und auch die etwas entfernt liegenden Kleingärten identifiziert zu haben. 

 

Bis 1944 war es meinen Eltern möglich, Ausflüge und Urlaube mit uns zu machen, wie Bilder belegen: zu meiner Großmutter väterlicherseits nach Stettin, ins Riesengebirge, in die Sudeten.

Mit meinem Vater 1943 in Großwasser (Ostsudeten)

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Kein idyllisches Leben

Aber der friedliche Eindruck, den die Albenbilder vorspiegeln, täuscht. Das Leben in Breslau zu dieser Zeit war keine Idylle. Die Fotoalben dokumentieren den Versuch eines Rückzuges in den privaten, familiären Raum, um wenigstens da eine bürgerlich gesicherte, gesittete Lebenswelt zu bewahren. Der Versuch war illusionär und scheiterte.  

Später – im Rückblick – schreibt meine Mutter an meine Schwester über die Umstände ihrer Geburt:

„Als Du geboren wurdest, war ich mutterseelenallein, es war Krieg, Dein Vater war bei der Wehrmacht. Ich lief mit einem 14-jährigen Pflichtjahrmädchen in der Nacht in die Universitätsklinik, es gab keine Taxen. Das Mädchen musste allein wieder zurück in unsere Wohnung, da Wolfram, 1 ½ Jahre alt, allein in der Wohnung war. Sie musste meiner Mutter ein Telegramm schicken, dass sie sofort nach Breslau kommen sollte, um Kind und Haushalt zu besorgen, das Mädchen war ja nur bis 17 Uhr da und fehlte oft … Ich blieb 8 Tage in der Klinik, dann kamen wir nach Hause, meine Mutter blieb noch 8 Tage, dann musste sie zurück. Ich war noch sehr geschwächt und stand täglich nach Lebensmittel an, besorgte den Haushalt und Euch. Darauf setzten nachgeburtliche Komplikationen ein. Diesmal konnte meine Mutter nicht kommen, ich musste allein fertig werden. Als ich mich wieder aufgerappelt hatte, versuchte ich alles für Euch zu tun. Das Mädchen fuhr, wenn sie da war, mit Euch stundenlang im Park spazieren, in der guten Luft; im Reformhaus bekam ich Vollkornnahrung für Euch, Milch gab es wenig. Meine Eltern brachten frisches Gemüse aus ihrem Garten und Obst für Euch ... Dann fingen die Luftangriffe an …"

Nicht nur die Kriegsverhältnisse beeinträchtigten das Leben, die nationalsozialistischen Machthaber hielten die Stadt mit ihren totalitären Maßnahmen im Griff, übten Druck auf die Bevölkerung aus, verfolgten Missliebige und betrieben die „Entjudung“, d. h. die Enteignung und Vertreibung und schließlich die Vernichtung der jüdischen Bewohner der Stadt. Menschen mit körperlichen, seelischen und geistigen Behinderungen wurden ausgegrenzt, sterilisiert und ermordet, in „Kinderfachabteilungen“ praktizierten Ärzte Kinder-„Euthanasie“ – auch in Breslau. Wie jüdische Menschen wurden Sinti und Roma („Zigeuner“) aus rassistischen Gründen stigmatisiert, deportiert, exekutiert und in Lagern umgebracht, vielfach sterilisiert. Dass dies auch Breslauer Sinti betraf, ergibt sich aus zwei Schreiben (1943) an den Erzbischof von Breslau, Adolf Bertram, in dem dieser (vergeblich) um Schutz für die traditionell katholischen Sinti-Familien gebeten wird.

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Die Inhaftierung politischer Gegner und die Deportierung der Breslauer Juden

Schon 1933 war das Konzentrationslager Breslau-Dürrgoy eröffnet worden, in dem politische Gefangene, meist Gegner der Nationalsozialisten aus SPD und KPD unter entwürdigenden Verhältnissen untergebracht wurden und Zwangsarbeit leisten mussten. Von den SA-Leuten wurden sie grausam behandelt und oft gefoltert. Der Breslauer Bevölkerung war dies bekannt, da prominente Häftlinge triumphzugartig durch Breslau zum KZ geführt wurden, als Abschreckung und Machtdemonstration. Prominente wie der frühere Reichstagspräsident Paul Löbe wurden besonderen Schikanen ausgesetzt.  Das Lager wurde allerdings bald wieder aufgelöst und die meisten Inhaftierten in andere KZ verbracht.  

Ab 1938 wurden Juden deportiert, auch aus Breslau, einer für das deutsche Judentum wichtigen Stadt. Hier lebte vor dem Krieg die drittgrößte jüdische Gemeinde mit einer Vielzahl an orthodox oder liberal geführten Synagogen und Vereinigungen; mit dem „Jüdisch-Theologischen Seminar“ an der Universität zur Rabbinerausbildung war Breslau ein Zentrum des deutschen Reformjudentums.

Zuerst wurden jüdische Polen in Sonderzügen an die polnische Grenze gebracht und nach Polen abgeschoben. Auch hier erfolgte der Abtransport demonstrativ unter den Augen der Öffentlichkeit.

In den Pogromnächten November 1938 wurden sämtliche Synagogen bis auf eine von der SA zerstört, 2500 jüdische Mitbürger in „Schutzhaft“ genommen und ins KZ Buchenwald verschleppt. Die „Arisierung“ jüdischen Eigentums – Betriebe, Geschäfte, Hotels, Kaufhäuser - war Ende 1938 im Wesentlichen „abgewickelt“. Unweit von Breslau wurde 1940 das Arbeitslager Groß-Rosen eingerichtet, das sich zu einem der schlimmsten KZ entwickelte. Hier starben bis 1945 etwa 45 000 Menschen, meist Juden. Ein Jahr später wurde das Internierungs- und Arbeitslager Tomersdorf in Niederschlesien für Juden aus Schlesien angelegt, vor allem kamen sie aus Breslau. Nach Auflösung dieses Lagers wurden die Insassen nach Auschwitz, Theresienstadt und Majdanek geschickt. Im 1940 entstandenen Lager Klettendorf bei Breslau schufteten Juden an der Reichautobahn von Breslau nach Berlin. Ein weiteres Zwangsarbeitslager für Juden, zuerst für Frauen, war in Breslau-Neukirch. Im Laufe des Krieges entstanden Zwangsarbeiterlager, in denen Kriegsgefangene und Ausländer, vor allem Polen, unter miserablen Lebensbedingungen gefangen gehalten wurden, so in der Breslauer Clausewitzstraße. In Breslau waren ca. 50 000 ausländische Zwangsarbeiter beschäftigt, die zu schweren und gefährlichen Arbeiten herangezogen wurden. 

Eingang zum KZ Groß-Rosen (Bild: www.getyourguide/breslau)
  

Im Herbst 1941 begannen die systematischen Massentransporte deutscher Juden in Gettos, Arbeits- und schließlich Vernichtungslager der eroberten Gebiete des Baltikums und des Ostens. Im November 1941 wurden 1005 Breslauer Juden mit Frauen und Kindern als „Umsiedler“ nach Kowno (Litauen) deportiert. Dort wurden sie zusammen mit Wiener Juden auf Befehl des SS-Standartenführers Karl Jäger unter den Augen der Wehrmacht und unter Beteiligung von litauischen Wachmannschaften durch Maschinengewehrsalven gnadenlos exekutiert.

Nicht nur Sonderkommandos der SS und der Polizei, sondern auch Soldaten der Wehrmacht beteiligten sich an Exekutionen von Juden, so im Dezember  1941 beim „Weihnachtsmassaker“ in Simferopol (Krim).

Ab Frühjahr 1942 wurden die noch verbliebenen Breslauer Juden direkt in Vernichtungslager gebracht. Von 1940 bis 1943 zogen 108 Breslauer Juden den Suizid der Deportation vor. 

Von den rund 20 000 jüdischen Menschen im Jahre 1933 (3,25 % der Einwohner) sollen Anfang 1945 nur noch 200 in der Stadt übriggeblieben sein. Ihre von der Gestapo geplante Versenkung in der Oder wurde durch das Kriegsende verhindert.

Auch der Abtransport der Juden kann den Breslauern nicht verborgen geblieben sein. Sie wurden von der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) und Schutzpolizei aus den Häusern abgeholt, an Sammelplätze geleitet, in „Judenhäuser“ in der Stadt einquartiert und dann mit von der Schutzpolizei- und SS-Mannschaften bewachten Sonderabteilen oder -zügen in die Lager verfrachtet. Die Fahrt ging über Bahnhöfe, wo die – ab 1942 mit dem gelben Stern gekennzeichneten - Deportierten nicht selten versuchten, Kontakt mit Umstehenden aufzunehmen, etwa mit der Bitte um Wasser.

Hinter den „Evakuierungen“ genannten Deportationen stand ein ganzer Apparat von Mitwirkenden: Gauleitungen, jüdische Gemeinden (gezwungen), Einwohnermeldeämter, Finanzämter, Polizei, Reichsbahnverwaltung ...

Meine Mutter berichtete, sie hätte wohl beobachtet, wie jüdische Nachbarn aus den Häusern geholt wurden und zu den Sammelplätzen gebracht wurden. Sie fand das zwar nicht gut, aber glaubte – wie viele – den offiziellen Verlautbarungen, dass sie in „jüdischen Wohngemeinschaften“ zusammengefasst und schließlich in Regionen im Osten „umgesiedelt“ würden, in denen sie unter sich leben und "Aufbauarbeit" leisten könnten.

Heute wissen wir durch viele, auch gerichtlich bestätigte Berichte von Betroffenen und Zeugen von den Ängsten, dem Leid der Opfer, der Willfährigkeit, Gefühllosigkeit oder Unmenschlichkeit der Mitwirkenden und Täter; es ist nicht zu fassen, wenn dies geleugnet oder beschönigt wird.

Mein Vater wusste mehr über die Deportationen und ihre Ziele, unterlag aber der dienstlichen Geheimhaltungspflicht und teilte meiner Mutter nichts über sein Wissen mit.

4

Ein Eisenbahnbeamter und Offizier vor der Wahl: NSDAP oder Front

Hier möchte ich etwas zu der Haltung meines Vaters im sogenannten 3. Reich sagen. Mein Vater war als Reichbahninspektor in der Reichsbahndirektion Breslau beschäftigt. Sein Tätigkeitsfeld war die „Verkehrskontrolle“. Diese befasste sich mit der Statistik und der Abrechnung der Güter- und Personentransporte der Bahn mit dem Staat. Auf diesem Gebiet war er Fachmann und deshalb wurde er im Krieg als unabkömmlich erklärt. Er wurde zwar zur Wehrmacht einberufen und entsprechend seinem Beamtenstatus zum Leutnant ernannt, musste sich aber nur zeitweilig zum Militärdienst einfinden. Er tat also nicht nur als Beamter, sondern auch als Militärperson seinen Dienst bei der Bahn.

Die Reichbahn war 1937 „gleichgeschaltet“ worden, d. h. hatte als eigenständige Gesellschaft aufgehört zu existieren und wurde direkt der Staatshoheit, dem Reichsverkehrsministerium, unterstellt. Auch das „Führerprinzip“ wurde eingeführt, was u. a. Vorgesetzten autoritäre Entscheidungsmacht nach unten verlieh und „Untergebene“ zu kritikloser „Gefolgschaft“ verpflichtete. Die Führungspositionen wurden mit Nationalsozialisten besetzt und die Mitarbeiterschaft von politisch „Unzuverlässigen“ „gesäubert“. Von den Mitarbeitern, vor allem von denen im höheren Dienst, wurde Linientreue und Parteigehorsam gefordert. Auf ihren Dienstmützen trugen die Eisenbahner das Nazi-Emblem.

„Befördert kann nur der Beamte werden, der … jederzeit rückhaltlos für den nationalsozialistischen Staat eintritt und ihn wirksam vertritt“

hieß es in den 1938 erlassenen neuen Bestimmungen für Reichsbahnbeamte.

Die Reichsbahn war ein unentbehrlicher Faktor bei den Militärtransporten und Judendeportationen.

„Die Reichsbahn ist ein Teil der Front. Denke daran und handle danach … Räder müssen rollen für den Sieg“

war auf einem Plakat zu lesen, das sich an die Reichsbahnmitarbeiter wandte. Es entstand 1942 auf Veranlassung des Staatsekretärs im Reichsverkehrsministerium und stellvertretenden Generaldirektors der Reichbahn, Dr. ing. Albert Ganzenmüller.

„Der Führer setzt großes Vertrauen in seine Eisenbahner. An uns liegt es, uns dieses großen Vertrauens würdig zu erweisen“,

teilte er im „Amtlichen Nachrichtenblatt der Deutschen Reichsbahn“ mit.

Ganzenmüller war ab 1942 Hauptverantwortlicher für die Organisation der Judentransporte bei der Bahn. Er ist der einzige Reichsbahner, gegen den in diesem Zusammenhang später Anklage erhoben wurde (1969). Es kam aber nie zu einer Verurteilung. Er habe nur seine „Pflicht“ getan und nichts von der „Endlösung“ gewusst, so redete sich der „Spediteur des Todes“ heraus. 

Aufruf an Eisenbahner 1943 (Bild: R. Dietrich, wikimedia.org. Quelle: Amtsblatt der Reichsbahndirektion Mainz vom 19. Januar 1943, Nr. 2, S. 10)

Zerstörte Lokomotiven, Tender und andere Reste auf Reichsbahngelände Dresden 1945 - Auf einem Tender: "Räder müssen rollen für den Sieg". [Bild (bearbeitet): Richard Peter in Deutsche Fotothek /wikimedia.org]
 

Durch die Abrechnung der Transporte mit dem Staat – vertreten durch das „Reichssicherheitshauptamt“, das für die „Judenpolitik“ zuständig war - hatte die Reichsbahn hohe Einnahmen. Nicht zuletzt wurden Kosten mit dem beschlagnahmten Vermögen der Deportierten finanziert. Wenn möglich, mussten sie die „Fahrkarte in den Tod“ selbst bezahlen. Der Auftraggeber der Deportationszüge im Reichssicherheitshauptamt war der SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann. Die Bahn sorgte für die Bereitstellung der Züge, die Fahrpläne und den reibungslosen Verlauf der Fahrten. Schätzungen zufolge wurden zwischen 1941 und 1945 etwa drei Millionen Menschen mit Zügen der Deutschen Reichsbahn in Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslager transportiert, erst in Personen- und Güter-, dann in Viehwaggons, oft unter entsetzlichen Umständen. 

Güterwagen in der Gedenkstätte Yad Vashem (Israel)

Mein Vater muss durch seine Arbeit von den Militärtransporten zur Vorbereitung und Fortführung des Krieges und auch von den Judentransporten und ihren Zielorten gewusst haben. Wahrscheinlich erfuhr er auch über Hörensagen von Kollegen, was mit Juden in den Konzentrationslagern geschah.

Später äußerte er sich nur sehr zurückhaltend und allgemein über diese Themen; ich habe es unterlassen, weiter nachzufragen.

Es war kein Geheimnis, was die nationalsozialistischen Machthaber mit den Juden vorhatten. Schon am 30. Januar 1939 – noch vor Kriegsbeginn - hatte Hitler in einer Reichstagrede „die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ nach dem Kriege „prophezeit“.

Politisch stand mein Vater der SPD nahe, wie ein „unbelasteter“ Kollege (Nichtparteimitglied) im späteren „Entnazifizierungsverfahren“ eidesstattlich versicherte. Er bezeugte auch die „demokratische Gesinnung“ meines Vaters, die er in Gesprächen mit ihm offengelegt habe.

Zunächst weigerte sich mein Vater der NSDAP beizutreten, obwohl er als Beamter und Offizier unter dem Druck stand, dies zu tun. Vor allem sein Vorgesetzter, Amtmann B., ein fanatischer Anhänger des Regimes, übte in dieser Hinsicht massiven Druck auf die Untergebenen aus. Anscheinend gelang es nur Kollegen in untergeordneten Positionen sich diesem Druck zu entziehen. All dies belastete meinen Vater und er ersuchte um Versetzung an einen anderen Ort und anderen Aufgabenbereich. Daraufhin bestellte ihn Amtmann B. zu sich und eröffnete ihm, wenn er seinen bisherigen Aufgaben nicht weiter nachkomme und nicht der Partei beitrete, werde er an die Front versetzt. Angesichts des Zusammenwirkens der 0rgane des NS-Regimes und ihrer Entschlossenheit, die nationalsozialistischen Ziele durchzusetzen, war diese Drohung ernst zu nehmen.

Wie mein Vater mir erzählte, entschied er sich gegen seine Überzeugung, aber mit Rücksicht auf seine Familie, also auch auf uns Kinder, zu bleiben und trat 1940 der Partei bei. Er übernahm dann die Aufgabe eines stellvertretenden „Blockwarts“, wobei sich diese Tätigkeit darauf beschränkte, dass er Lebensmittelkarten im Wohnblock verteilte. Wie die Spruchkammer im Entnazifizierungsverfahren auf Grund von Kollegenaussagen feststellte, setzte er sich „niemals aktiv oder propagandistisch für die Partei“ ein. Gleichgesinnten Kollegen und Freunden gegenüber „ließ er erkennen, dass er kein Anhänger des NS und mit der Politik desselben nicht einverstanden war“; so äußerte er z. B., dass „Hitler diesen Krieg nie gewinnen könne“. Nach dem Krieg war aber die Parteimitgliedschaft sehr nachteilig für ihn und uns, worüber ich noch berichten werde.

5

Das Ende Breslaus

Bis Oktober 1944 blieb Breslau von Luftangriffen verschont. Schlesien lag außerhalb der Reichweite der britischen und amerikanischen Luftflotte. Dies änderte sich mit der Eroberung Süd- und Mittelitaliens durch die Alliierten und dem Vorrücken der sowjetrussischen Truppen. Von Italien aus stiegen amerikanische Bomberflugzeuge auf und bombardierten Ziele in Schlesien.

Erst fielen nur wenige Bomben in Breslau. Dies steigerte sich zusehends und zusammen mit den Kampfhandlungen um und in dem im September 1941 zur „Festung“ erklärten Breslau blieb bei der Kapitulation am 6. Mai 1945 eine Stadt in Trümmern zurück. Von den am Schluss in der Stadt noch verbliebenen 150 000 bis 200 000 Einwohnern überlebten mindestens 20 000 die Kämpfe nicht. Andere Schätzungen sprechen von weitaus höheren Opfern in der Zivilbevölkerung. Tausende von deutschen und sowjetischen Soldaten fielen. Hier schwanken die Angaben von 6 500 bis 12 000 bei den deutschen Truppen (samt "Volkssturm") und 7000 bis 33 000 bei den sowjetischen Einheiten. Das war das Ergebnis des von der politischen und militärischen Führung in Berlin und Breslau verordneten „Selbstmordes“ der einst wirtschaftlich und kulturell blühenden, mit einem reichen historischen Erbe und architektonischen Schätzen ausgestatteten Hauptstadt Schlesiens.

Gauleiter Karl Hanke, der politisch Verantwortliche für Breslau, hatte angeordnet, dass die schlecht vorbereitete Festung bis zum letzten Mann zu verteidigen sei und setzte dies rigoros durch. Selbst Jugendliche und ältere Männer wurden zum von Hanke kommandierten Volkssturm eingezogen und mussten bei der Verteidigung Hand anlegen. Wer sich nicht fügte, hatte harte Strafen zu erwarten, auf Desertation und „Feigheit vor dem Feind“ stand die standrechtliche Erschießung. Nicht umsonst wurde Hanke als der „Henker von Breslau“ bezeichnet. Das prominenteste Opfer seiner Maßnahmen war der stellvertretende Oberbürgermeister Spielhagen, der zur Kapitulation geraten hatte und sich nach Berlin versetzen lassen wollte.

In der Bekanntmachung zur Hinrichtung Spielhagens gab Hanke die Parole aus:

„Wer den Tod in Ehren fürchtet, stirbt ihn in Schande!“

Selbst setzte sich Hanke, kurz vor dem Fall der Stadt, mit einem entwendeten „Fieseler Storch“ (Kleinflugzeug) ab.


Wroclaw / Breslau 2013

Fast wäre mein Vater auch vor ein Standgericht gestellt worden, davon weiter unten.

Als Jugendlicher habe ich habe meine Eltern gefragt, warum die meisten Deutschen diese Leiden so widerspruchslos ertrugen und bis zuletzt an Hitler festhielten. Sie meinten, man habe dem nationalsozialistischen System nicht entrinnen können, das krakenartig alle Lebensgebiete im Griff hatte. Über die Haltung meines Vaters habe ich schon berichtet. Meine Mutter war unpolitisch und regte sich vor allem über die „Primitivität“ und „Unbildung“ der Parteibonzen auf. Ohne vom „Führer“ überzeugt gewesen zu sein, habe sie am Schluss gemeint, nur Hitler könne Deutschland noch vor dem völligen Zusammenbruch retten. Hitler versprach ja auch noch in seiner letzten Rundfunkansprache (30.01.45) den „Endsieg“ durch den Einsatz von „Wunderwaffen“.

Tatsächlich wurden bis Ende März 1945 über 3.000 V2-Raketen (V=Vergeltung ) mit Zielen in England, Belgien und Frankreich abgefeuert. Zuletzt wurden sie von KZ-Häftlingen in unterirdischen Anlagen im Kohnstein bei Nordhausen (Harz) hergestellt.  Bei den Angriffen starben schätzungsweise 8.000 bis 12.000 Menschen, hauptsächlich in London und Antwerpen. Mehr Opfer als der Einsatz forderte die Produktion der Raketen. Von den 60 000 Häftlingen des KZ Mittelbau Dora kamen 20 000 durch unmenschliche Arbeitsbedingungen und den Terror des SS-, Luftwaffen- und Zivilpersonals um. Auch Wernher von Braun war hier tätig. Viele der Häftlinge waren Breslauer und Schlesier, die aus dem KZ Groß-Rosen kamen (siehe oben).

Die Raketen konnten den Krieg nicht wenden, führten aber zu verstärkten Bombenangriffen der Alliierten, u.a. auf Nordhausen, das fast völlig zerstört wurde, wobei 8 800 Menschen umkamen.

Nicht nur Hitler und sein politisch-militärischer Apparat brachen Völker-, Kriegs- und Menschenrecht, sondern auch die Alliierten. Aber Hitler und seine Kumpane hatten die Kriegsmaschinerie in Gang gesetzt.

Da die nationalsozialistische Propaganda ein schreckliches Bild davon zeichnete, was Alliierte und vor allem Russen mit den Deutschen vorhätten, fürchtete man deren Sieg. (Leider hat sich später dann auch manches davon bestätigt.) Hinzu kam, dass staatliche Medien bis zuletzt nur militärische Erfolge und Durchhalteparolen brachten. In „Wochenschauen“ (Vorfilmen im Kino) wurde - untermalt von dramatisch-triumphaler Musik - der „heldenhafte“ und angeblich „erfolgreiche“, in Wirklichkeit sinnlose und längst verlorene Kampf um Breslau glorifiziert.

6

Auf der Flucht

Ich habe die Einkesselung, die erbitterten Kämpfe um die Stadt, ihren Fall und das nachfolgende Chaos nicht erlebt. Als die Bombardierungen anfingen, sollten Mütter mit Kindern Breslau verlassen. Später, im Januar 1945, musste die übrige nicht wehrfähige Bevölkerung die Stadt kurzfristig räumen. Dies setzte große Flüchtlingstrecks in Bewegung, bei denen viele umkamen, vor allem Kinder, Kranke und Ältere.

Ich gebe wieder meiner Mutter das Wort. Sie schreibt:

„Ich ging, da die Mütter mit Kindern die Stadt verlassen sollten, mit Euch zu meinen Eltern nach Oels. Sie hätten sonst fremde Leute aufnehmen müssen. Sie haben mir von ihrer Vier-Zimmer-Wohnung zwei kleine Zimmer abgelassen. Es war für mich nicht einfach mit den alten Leuten und Euch zu leben, mit getrennten Lebensmittelkarten, auf denen jede Partie nur das Notwendigste an Grundnahrungsmitteln zugeteilt bekam. Sonntags kam oft Vati dazu, auf Urlaub. Dann wurde er von der Wehrmacht als überaltert entlassen und musste zuletzt als Zivilist Flakdienst machen.

Jetzt kam die Kriegsfront immer näher, der Russe stand 25 km mit den Panzern vor Oels. Die Bauern in der Umgebung waren schon alle von Haus und Hof, das Vieh lief brüllend auf den verschneiten Feldern umher, es war im Januar und es herrschte eine schneidende Kälte. Die Oder und der Rhein waren zugefroren.

Da erschien Vati. Er hatte gehört, dass Oels evakuiert werden sollte. Er kam, um uns noch einmal zu sehen und instruierte uns, dass wir so schnell wie möglich einen Zug nehmen müssten, denn bald würden keiner mehr fahren.

Er musste sofort wieder zurück, er hatte sich unerlaubt vom Flakdienst entfernt. Am Bahnhof wurde er von einer Streife verhaftet. Männer durften nicht umherlaufen, sie hatten an der Front zu sein. Er entwischte ihnen aus der Hintertür und sprang auf einen anfahrenden Zug, in dem er untertauchte. So kam er wieder nach Breslau zu seiner Dienststelle und dem Flakdienst. Das hätte schief gehen können, denn Deserteure wurden sofort erschossen.

Wir mussten binnen drei Stunden die Stadt verlassen. Ich war wieder allein mit Euch und Ihr hattet die Masern. Meine Eltern hatten schon vor uns das Haus verlassen.

Ich packte Hals über Kopf einen Rucksack und zwei Koffer. Ich setzte Dich [meine Schwester] in den Kindersportwagen, Wolfram musste daneben laufen. Den Schlitten mit den Koffern zog ich hinterher, einen musste ich unterwegs wegwerfen. So zogen wir zum überfüllten Bahnhof, kehrten aber noch einmal um, weil Du unbedingt Deinen vergessenen Teddybären haben wolltest. In einem vollgestopften Zug fuhren wir ins Ungewisse. Im Zug trafen wir auch meine Eltern wieder.

Meine Schwester mit Teddy und ich 1944

Bahnhof von Olesnica / Oels 2013 - Von hier ging unser Fluchtzug 1945 ab. Vom Aussehen her ist das Bahnhofsgebäude im Krieg nicht zerstört worden.

Unser Zug fuhr nach Schweidnitz, einer kleinen mittelschlesischen Stadt. Dort angekommen, habe ich Euch sofort mit Hilfe von Hitlerjungen ins Krankenhaus geschafft, es war ein Wettrennen um die Plätze. Ich ging mit dem Gepäck, Kinderwagen, Schlitten … in eine Schule, um dort auf Stroh zu übernachten. Inzwischen hatten sich meine Eltern auch eingefunden. Mein Schlitten wurde gestohlen, aber ich habe ihn wieder gefunden und an mich genommen. Viele Frauen, die ihre Kinder im Krankenhaus hatten, übernachteten auf den Treppen und in den Fluren, weil man nicht wusste, ob das Krankenhaus evakuiert würde. Zum Glück wohnte ein Vetter von mir in Schweidnitz, der mich suchen ließ und auch fand. Er stellte uns ein Zimmer seiner großen Wohnung zu Verfügung. Ich verzichtete zu Gunsten meiner Eltern. Eine Schwester von ihm war im Krankenhaus tätig. Sie sollte auf Euch achtgeben und mich sofort benachrichtigen, wenn das Krankenhaus evakuiert würde, in diesem Fall hätte sie ja auch ihre Koffer bei ihrem Bruder holen müsse.

Ihr lagt zusammen in einem Bett [ich war inzwischen wieder gesund] Dein Bruder tröstete Dich ganz rührend, wie mir der Arzt sagte: ´Mutti kommt jeden Tag.`“

Ich kann mich an diese Situation in dem wegen der Fliegerangriffe verdunkelten Raum erinnern. Ich sprach zwar meiner Schwester Mut zu, aber fühlte mich selber verlassen und hatte Angst, wir könnten von unserer Mutter getrennt werden. Das konnte ich mir aber wegen meiner kleinen Schwester nicht anmerken lassen.

Meine Mutter fährt mit ihrem Bericht fort:

"Kurz bevor Ihr entlassen wurdet, bekam ich bei einer Schneiderin ein Zimmer, es war ihr Atelier. Sie war sehr nett zu uns. Inzwischen fand uns auch Vati. Das war alles sehr einmalig und ich sehe es als Gottes Fügung an. Die Breslauer Reichbahndirektion wurde verlegt und kam in einem Zug in Schweidnitz an. Es war der letzte Zug, der von Breslau abging."

Mein Vater hatte diesen Zug mit Mühe und Not erreicht, wie er berichtete. Es musste alles sehr schnell gehen. Er war immer etwas umständlich und so brauchte er viel Zeit, bis er alles zusammen hatte, was er mitnehmen wollte. Es war im Endeffekt sehr wenig, die notwendigste Kleidung und Toilettensachen, Dokumente ... Dann machte er Umwege zum Breslauer Bahnhof, er wollte nicht wieder einer Streife in die Hände fallen. Wer weiß, ob ihm sein Eisenbahnerausweis und ein Passierschein davor bewahrt hätte, sofort wieder zum Volkssturm eingezogen zu werden.

„In Schweidnitz traf er meinen Vater [unseren Großvater] zufällig und hörte, dass wir auch dort gelandet waren; so erfuhr er, wo wir untergekommen waren. Er kam auch noch in unserem Zimmer unter.

Nach acht Tagen fuhr die Direktion mit einem Sonderzug nach Erfurt weiter. Ich habe mich mit Euch einfach mit in den Zug gesetzt, obwohl das nicht erlaubt war. Die Chefsekretärin hatte ihre Schwester mit vier Kindern mitgenommen und so konnte mir niemand etwas sagen.

Dies ist der "Dienstzug" der Reichbahndirektion Breslau, mit dem wir nach Erfurt kamen. Die Fahrt von Breslau nach Erfurt  dauerte vom 21. Januar bis zum 19. Februar 1945. Der Zug hatte nach Erfurt noch eine lange Irrfahrt vor sich. (Quelle: Verkehrsgeschichtliche Blätter, Heft 1, 2015, S. 15-19;  Autor: H. Klammer)

In Erfurt ging ich Straße für Straße ein Zimmer suchen und fand sogar eine ganze Wohnung. Die Hausbesitzerin zog wegen der Luftangriffe weg zu ihrer Tochter und sagte, sie hätte zu mir Vertrauen. Ich durfte sogar ihre Kellervorräte nehmen und auch verschenken, nur auf die verlagerten Sachen müsste ich Acht geben, die ihr nicht gehörten. [Es war üblich, Sachen bei verschiedenen Verwandten und Bekannten einzulagern für den Fall, dass die eigene Wohnung zerstört würde.] Die Mitbewohner des Hauses waren sehr nett, eine hilfreiche Familie. Ich habe noch Breslauer Bekannten, dem alten Ehepaar Altmann, mit Kartoffeln ausgeholfen, weil sie nichts zum Essen hatten.

Wir kamen allerdings nicht zum Essen. Ehe die Kartoffeln weich waren, war Luftalarm und wir mussten in den Keller. Pausenlos fielen die Bomben, es brannte nebenan und überall."

Diese Bombennacht ist mir noch gut in Erinnerung. Nach dem „Voralarm“ gingen wir Kinder und meine Mutter noch einmal vor das Haus. In der Ferne flogen die Flugzeuge an. Vom Himmel schwebten hell leuchtende Gebilde. Ich sagte: "Schau mal Mutti, da fallen Christbäume vom Himmel." Meine Mutter erklärte mir, dass dies Leuchtkörper seien, mit denen die Bombardierungsziele markiert werden sollten. Als die Sirenen wieder heulten, rannten wir schnell in den Hauskeller hinunter. Die Türen wurden verschlossen. Vor den Fenstern waren Sandsäcke gestapelt worden und es brannten nur einige schwache Glühbirnen, sodass in dem zum "Luftschutzraum" hergerichteten Kellerteil nur schummriges Licht herrschte. Dort hatte die ganze Hausgemeinschaft Schutz gesucht. Stühle und Pritschen waren aufgestellt worden, dazwischen standen Koffer. Am Brummen der Motoren hörte man, dass die Flugzeuge näherkamen. Bald fielen Bomben. Ihr Aufprall kündigte sich durch ein zischendes, pfeifendes Geräusch an. Dann kam der laute Knall der Explosion. So ging es lange Zeit. Die Wände wackelten und das Licht ging aus. Leute schrien, einige warfen sich auf die Erde und beteten laut.

Seltsamerweise hatte ich im Gegensatz zu den Erwachsenen wenig Angst. Für mich war das alles verwunderlich und eine Art großes Spektakel. Die Gefahr war mir wohl nicht bewusst.

Dann war es plötzlich ruhig, die „Entwarnung“ kam und wir gingen aus dem Keller vor das Haus. Den Anblick werde ich nie vergessen. Vor dem Angriff stand hier Haus an Haus. Unser Haus war stehen geblieben, nur Fenster waren zerborsten, das Nachbarhaus und andere lagen in Schutt und Asche. Überall rauchende oder brennende Trümmer. Außer den Sprengbomben waren Brandbomben abgeworfen worden. Wir gingen wieder in unsere Wohnung hinauf. Wir Kinder wurden ins Bett gebracht. Von den Rettungs- und Aufräumarbeiten habe ich nichts mitbekommen, es wird ja viele Verschüttete und Tote gegeben haben. 

Der Angriff, den ich erlebt habe, muss der vom 25. Februar 1945 gewesen sein. Im Wikipedia Artikel "Luftangriffe auf Erfurt" heißt es:

"Am 25. Februar 1945 luden abends 59 Mosquitos [Jagdbomber] der RAF [Royal Air Force] 73 Tonnen Brand-, Spreng- und Minenbomben über der Innenstadt ab. 288 Menschen starben, davon 276 im Keller des Bibliotheksgebäudes des Augustinerklosters durch eine von zwei Minenbomben."

Meine Mutter berichtet:

„Als unser Nebenhaus abbrannte, nahm ich einige Menschen auf, die total zerstört waren, tröstete sie, richtete ihnen Betten und am Morgen ein Frühstück.

In Erfurt erlebten wir auch den ersten Tieffliegerangriff. Ich ging mit Euch über die Straße, da kam blitzschnell ein Tiefflieger und schoss. Wir sahen, wie er das Maschinengewehr auf uns richtete, vorher hatte er danebengeschossen. Die Leute schrien. Ich sah ihm ins Gesicht und er drückte nicht ab, ließ uns in ein Haus flüchten.“

Nach meiner Pensionierung haben meine Frau und ich lange in Spanien gelebt, in Roses an der Costa Brava. Im Rahmen meiner „Kulturspaziergänge“, die ich für Deutsche veranstaltete, habe ich mich mit den Bombardierungen der deutschen „Legion Condor“ und der italienischen „Aviazione Legionaria“ im Spanischen Bürgerkrieg befasst. Das was Deutsche mit den Terrorangriffen auf Zivilisten in Guernica und viel schlimmer in Figueres begonnen und mit dem Beschuss englischer Städte fortgeführt hatten, fiel nun auf uns zurück. „Wer Wind sät, wird Sturm ernten.“

Meine Mutter erzählt weiter:

„Dann durften die Eisenbahner, die Kinder hatten, in einem Güterzug nach Regensburg fahren. Unterwegs Tieffliegerangriffe. Einmal hielt der Zug an, mitten auf dem Feld, es war kein Angriff. Ihr wolltet aufs Töpfchen, mochtet im Zug nicht aufs Notklo gehen. Andere stiegen auch aus. Ihr sasst auf den Töpfchen am Bahndamm. Da fuhr der Zug plötzlich an.“

Ich erinnere mich, dass es in dem Güterwaggon fürchterlich eng und dunkel war. Die Luken waren wegen der Kälte mit Decken verhängt. Überall lagen oder standen Menschen herum, manche alt und krank. Bedürfnisse wurden in einer Ecke auf Eimern erledigt. Wenn die Tür nicht geöffnet war, stank es. Wenn man sie öffnete, zog es kalt herein und Leute protestierten. Essen und Trinken war knapp. Man half sich aber gegenseitig aus. 

Auch an die Töpfchen-Szene erinnere ich mich. Als der Zug sich in Bewegung setzte, sprangen wir mitten in unserem Geschäft vom Töpfchen auf, kullerten samt diesem einen Abhang hinunter und rannten mit unseren Eltern schreiend zum Zug. Gerettet wurden wir, weil sich zwei Frauen laut rufend an den Zug hängten, was der Lokomotivführer bemerkte und Halt machte. An andere Vorfälle oder die Zwischenstationen erinnere ich mich nicht mehr, nur dass die Fahrt mir sehr lang vorkam. Wahrscheinlich fuhren wir kreuz und quer durch Deutschland.

Auch hier kam das über uns, was Juden und anderen Deportierten angetan wurde, nur dass es diesen viel schlechter erging.

Vertreibung 1945 (Bild: wikipedia.org)

 
Zurück zum Bericht meiner Mutter:

„Regensburg wurde ständig angegriffen, aber in den drei Tagen, die wir dort waren, gab es keinen einzigen Angriff. Vati meldete sich bei der Reichsbahndirektion Regensburg. Ich ging mit Euch mit, und wie es der Zufall wollte, sprach mich der maßgebende Dezernent an, als ich auf Euren Vater wartete. Ich benutzte die Gelegenheit, um ihm unser Anliegen vorzutragen, endlich in eine kleine Stadt ohne Angriffe zu kommen. Er beratschlagte sich sehr freundlich mit mir und stimmte zu, als ich Cham in der Oberpfalz vorschlug. Als Vati dazukam, wollte er lieber in eine größere Stadt, aber der Dezernent sagte, es sei alles schon bestens geregelt und er sollte froh darüber sein. So wurde er zum Bahnhofsvorsteher in Cham ernannt. Er fuhr dorthin vor uns ab. In Cham waren schon einige Eisenbahner aus Breslau da, was ihm seinen Dienst erleichterte." 

Hier möchte ich einflechten, dass wir Kleinen es gar nicht so richtig mitbekamen, dass wir unseren Vater in Cham wiedersehen würden. Für uns war es eine große Überraschung, als wir ihn am Bahnhof in Cham antrafen. 

 7

Die Flucht endet in Cham / Oberpfalz 

Meine Mutter erzählt weiter:

"Auch wir fuhren nach Cham und wohnten dort ein paar Tage wieder in einer Schule, dann fand ich bei der Familie M. auf dem Berg über der Stadt eine Wohnung.

Meine Eltern und wir Geschwister 1946 vor dem Haus der Familie M. in Cham

So bietet sich Anwesen und Haus heute dem Blick dar

Einmal noch, vor der Übergabe der Stadt an die Amerikaner, war ein großer Angriff auf den Bahnhof, weil dort ein Munitionszug stand. Viele Eisenbahner und andere waren tot. Vati hatte gerade keinen Dienst. Wir waren auf dem Berge geschützt, da die Flieger über uns wegflogen und erst unten die Bomben warfen."

Der Angriff auf den Bahnhof war am 18. April 1945, in aller Morgenfrühe. Außer den Eisenbahnern waren Einheimische, Soldaten und Flüchtlinge die Opfer, unter ihnen Schüler und ihr Lehrer, die aus dem Banat (heute Serbien) vor sowjetischen Truppen geflüchtet waren. Als die Jugendlichen unterwegs zum Volkssturm eingezogen werden sollten, war der Lehrer mit ihnen nach Cham geflohen. Alle hatten im Bahnhofsgebäude übernachtet, wahrscheinlich mit Erlaubnis meines Vaters. Bei dem Angriff liefen sie ins Freie. 7 von ihnen und ihr Lehrer wurden durch Bombensplitter getötet. Bei dem Angriff kamen 63 Menschen um. 46 Personen wurden verwundet. Das Bahnhofsgebäude blieb unbeschädigt.

Der Bahnhofsvorplatz trägt heute den Namen des Lehrers, Ludwig- Schwan-Platz.

Wieder einmal war mein Vater davongekommen.

Denkmal zur Erinnerung an die Bombenopfer in Cham. Auf dem Mahnmal sind die Namen der Toten verzeichnet. (Bildquelle: www.marienrealschule-cham.de/bericht/denkmäler-rund-um-den-schulberg)


Chamer Bahnareal nach dem nächtlichen Bombenangriff im April 1945. (Foto: Stadtarchiv Cham. Quelle: "Als die Amerikaner nach Cham kamen", "Mittelbayerische" vom 20.04.2015)

 
Der Bahnhof Cham heute. Das Stationsgebäude war bei dem Angriff 1945 heil geblieben.

"In Cham wohnten wir über ein Jahr im Haus M. am Walde. Zu essen hatten wir dort genug, nur Obst gab es nicht, dafür Milch, frische Eier, Brot und Fleisch, die wir von Bauern bekamen. Ich musste sie mit dem wenigen Schmuck und anderen Habseligkeiten eintauschen, die wir gerettet hatten.

Im Ort gab es eine nette kleine evangelische Gemeinde mit Pfarrer N., der sich herzlich um uns bemühte. [Von ihm wurden meine Schwester und ich getauft und ließen sich unsere Eltern kirchlich trauen.] Aber auch ein junger katholischer Kaplan, unser Nachbar, war sehr freundlich zu uns und war Euch sehr zugetan. Er hat oft auf Euch aufgepasst, wenn ich hinunter in die Stadt musste und Euch vor den Buben der Hausbesitzerfamilie bewahrt, die sich im ´Flegelalter` befanden. Sie waren seine ´Messdiener`, aber spielten uns und Euch manchen bösen Streich.“

In Cham war ich 6 Jahre alt. Während ich mich an die vorhergehende Flucht nur lückenhaft erinnere, habe ich viele und klare Erinnerungen an diese Zeit.

Eindrücklich war für mich ein Tieffliegerangriff. Meine Mutter, meine Schwester und ich kamen aus der Stadt und stiegen einen Fußweg den Berg zu unserer Wohnung hinauf. Plötzlich stürzten Tiefflieger auf uns herab. Andere Fußgänger versteckten sich in Buschlücken am Wegrand. Alle Lücken waren besetzt und die Leute winkten uns zu, weiterzugehen. Wir warfen uns in ein Brennnesselfeld weiter oben. Meine Schwester und ich schrien, denn es brannte fürchterlich, aber unsere Mutter drückte uns nieder. Ein Flugzeug flog ganz niedrig auf uns zu. Ich sah das Gesicht des Piloten mit Helm und Schutzbrille. Er blickte auf uns hinunter - aber er drückte nicht ab, wie schon in Erfurt erlebt.

8

Die Amerikaner kommen

In Cham erlebten wir auch den Einmarsch der Amerikaner. Es gab einzelne – sinnlose - Versuche sie aufzuhalten – einer wird in dem Film „Die Brücke“ von Bernhard Wicki dargestellt. Aber dank beherzter Bürger wurde die Stadt bis auf Ausnahmen kampflos übergeben (23. April 1945). Auch aus einem Fenster unseres Hauses wehte eine weiße Flagge. Die Türen waren auf.

Wir saßen im Keller, als die Amerikaner kamen. Wir hörten, wie sie im Haus über uns herumtrampelten und laute Rufe ausstießen. Dann rissen sie die Tür auf und kamen mit vorgehaltener Waffe herein - junge Burschen, darunter ein Schwarzer (hatte ich noch nie gesehen). Sie machten einen sehr aufgebrachten Eindruck. Barsch fragten sie, wo die Männer seien und ob im Haus Waffen oder Munition lagerten. Meine Mutter, die ein wenig Englisch sprach, sagte ihnen, hier gebe es keine Männer und Waffen. Herr M., der Hausbesitzer, der eine Nazi-Funktion bekleidete, hatte seine Uniform verbrannt und sich mit anderen Nazis in die Wälder geschlagen. Mein Vater war nicht bei uns, wahrscheinlich hatte er den Bahnhof übergeben. Ein GI nahm jemandem eine Armbanduhr ab. Das löste einen heftigen Wortwechsel mit einem anderen Army-Mitglied aus. Der Anblick von uns ängstlich blickenden Kindern beruhigte die Soldaten schließlich und ließ sie freundlicher blicken. Sie strichen uns sogar über den Kopf. Endlich zogen sie ab.

9

Die Entdeckung der Grausamkeiten an Häftlingen des KZ Flossenbürg. Todesurteile für Widerstandskämpfer.  Das (Un-)Rechtssystem des Nationalsozialismus

Später fand ich heraus, warum die Soldaten so aufgebracht waren. Sie hatten von SS geführte Häftlings-Marschkolonnen, die aus dem KZ Flossenbürg und seinen Außenlagern kamen und das Lager selbst befreit. Die US-Soldaten fanden ca. 5000 erschossene und erschlagene Tote entlang der Routen der "Todesmärsche". Ein Teil der Toten war notdürftig  verscharrt worden. Tausende von Zivilisten nahmen das Leiden und Sterben der Häftlinge wahr, meist mit ablehnender Gleichgültigkeit - wie Überlebende berichten. (Auch der Aufbau und Betrieb des KZ - an dem öffentliche Verwaltungen und Privatbetriebe beteiligt waren - konnte der einheimischen Bevölkerung nicht verborgen geblieben sein.) Zwischen 3000 und 4000 Häftlinge wurden am 23. April zwischen Stamsried und Cham von US-Soldaten befreit. (Recherche-Video hier

Einige Tage später mussten sich meine Eltern und andere Einwohner Chams an einem Sammelplatz einfinden und wurden in Armee-Lastwagen weggefahren. Wahrscheinlich zwang man sie, eine der Schreckensstätten in der Nähe zu besichtigen. Es kann aber auch sein, dass sie an der Exhumierung und Beisetzung von KZ-Häftlingen teilnehmen mussten. Meine Eltern kehrten mit versteinerten Gesichtern zurück. Mit uns Kindern haben sie nicht über die Eindrücke, die sich ihnen geboten haben, gesprochen. Wir haben nichts davon erfahren, was sich in der Nähe von Cham in und um das KZ Flossenbürg (heute Gedenkstätte) an Schrecklichem abspielte.


deutsche_werden_an_den_leichen_ermordeter_haeftlinge_aus_dem_kz_flossenbuerg_vorbeigefuert

 Einer von 100 000 - Dietrich Bonhoeffer

 

Am 9.April 1945 - kurz vor Ende des Krieges - wurde der 1906 in Breslau geborene bedeutende evangelische Theologe, Pastor Dietrich Bonhoeffer im Arresthof des KZ Flossenbürg auf brutale und entwürdigende Weise wegen seiner Beteiligung an Vorbereitungen zu Umsturz und Attentaten auf Hitler mit anderen Widerständlern hingerichtet - auf persönliche Anordnung des "Führers". (Bonhoeffers theologische Gedanken haben mich und meine theologischen Studiengenossen stark beeinflusst.) Das Bild zeigt ihn (zweiter von rechts) 1944 umgeben von gefangenen italienischen Offizieren im Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis Berlin-Tegel. In dieser Zeit verfasste er die Briefe und Aufzeichnungen, die unter dem Titel "Widerstand und Ergebung" später herausgegegeben wurden. Aus Berliner Gefängnissen wurde er ins KZ Buchenwald und dann ins KZ Flossenbürg überführt. (Bildquelle: hier 

Hier in diesem Hof stand der Galgen, zu dem Bonhoeffer, Admiral Canaris (er wurde während der Standgerichtsverhandlung mißhandelt) und andere Prominente der am Widerstand Beteiligten völlig nackt geführt und gehängt wurden. Anschließend wurden ihre Leichen im Krematorium des KZ verbrannt und die Asche verstreut. Die Gefasstheit, mit der Bonhoeffer in den Tod ging, nötigte selbst dem dem sicher hartgesottenen SS-Lagerarzt Achtung ab. Bonhoeffers innere und äußere Haltung unter den Bedingungen der Haft ist erstaunlich. Von dieser Haltung und der Reaktion der Umgebung zeugt sein Gedicht "Wer bin ich?" (Bildquelle: Gedenkstätte Flossenbürg).  

Der Bundesgerichtshof - unter Beteiligung eines  ehemaligen Nazi-Richters - rechtfertigte 1956 in einem Revisionsprozess die auch schon ihrerzeit rechtswidrigen Standgerichtsurteile (Tod auf Grund "Hoch-, Landes- und Kriegsverrats") mit dem Hinweis auf die damaligen Umstände und Rechtsverhältnisse. Der dem Standgericht vorsitzende Richter, SS-Sturmbannführer Dr. Otto Thorbeck, wurde vom Vorwurf der mehrfachen Beihilfe zum Mord freigesprochen - entgegen früheren Verurteilungen. Die Urteile wurden erst 1996 bzw. 1998 öffentlich wirksam gerichtlich und durch Gesetz des Bundestags aufgehoben. Ein 1946 erlassenes bayrisches Gesetz, das die Urteile für nichtig erklärt hatte, war weitgehend unbeachtet geblieben. Für die Standgerichtsurteile gilt, dass die von Hitler aus Rache und politischen Motiven in Auftrag gegebenen Morde den Anschein der Rechtlichkeit haben sollten, wobei Juristen willig, systemkonform, unkritisch und, wenn erwartet, auch rechtswidrig mitwirkten.

Dies und das "Versagen der Nachkriegsjustiz ist ein dunkles Kapitel in der deutschen Justizgeschichte und wird dies bleiben.“ (Günter Hirsch, damaliger Präsident des BGH in einer Rede zu 100. Geburtstag Hans von Dohnanyis, 2002; Hans von Dohnanyi, entlassener Richter am Reichsgericht, am Widerstand Beteiligter, Freund und Schwager Dietrich Bonhoeffers, wurde am 6. April 1945 im KZ Sachsenhausen von einem SS-Standgericht - unter demselben Ankläger und auf Grund derselben Anklage wie bei Bonhoeffer - auf Befehl Hitlers zum Tode verurteilt und hingerichtet.)

Ich will hier einige Bemerkungen zum Rechtssystem im Nationalsozialismus anschließen. Wer Neonazis unterstützt und rechtsradikale Parteien wählt - aus welchen Gründen auch immer - sollte sich klar machen, dass uns ähnliche Verhältnisse wie unter der nationalsozialistischen Herrschaft blühen könnten, wenn sie an die Macht kämen. Auch wenn sie es unter modischen Mäntelchen verdecken, ihr Ziel ist es, die Gesellschaft nach Prinzipien umzugestalten, wie sie im Nationalsozialismus galten.

Im Wesentlichen lässt sich das, was ich schreibe, mit dem belegen, was ich bisher geschildert habe.

Wie alle Bereiche des öffentlichen Lebens wurde auch die Justiz dem Regime, seinen Zielen und Vorstellungen unterworfen. Der nationalsozialistische Staat verstand sich durchaus als "Rechtsstaat", dies aber im Sinne seiner Rechtsauffassung. Sie war dadurch gekennzeichnet, dass die Interessen der "Volksgemeinschaft" denen des Individuums vorgeordnet wurden. Verschärft wurde dieser Grundsatz dadurch, dass nur derjenige als "Rechtsgenosse" anerkannt wurde, also auch Rechte hatte, der "Volksgenosse" und "deutschen Blutes" war (was er ab 1935 durch einen "Ahnenpass" nachweisen musste). Völkische Homogenität, Unterordnung unter den "Volkswillen", Einordnung in die "Volksgemeinschaft" sollte Liberalität, Diversität, Internationalität und Einzelinteressen ersetzen. 

Da das Regime und die Partei festlegten, was die Interessen der Volksgemeinschaft seien - die Möglichkeit einer pluralistischen Mitwirkung des Volkes, etwa parlamentarischer Art, war durch das "Ermächtigungsgesetz" (1933) abgeschafft worden - wurden die Rechtsverhältniss nach dem Gusto der an die Macht Gekommenen umgestaltet. Die Gewaltenteilung und und damit die Unabhängigkeit der Justiz wurden beseitigt, der "Führer", das Regime, seine Organe und Vertreter, ihre Politik bestimmten, was rechtens sei. Staatliche Ämter, die Gestapo und die Justiz waren eng miteinander verzahnt. Letztenendes diente das Rechtswesen nicht mehr dem nach humanen Werten und allgemein anerkannten Normen rechtlich geordneten Zusammenleben in der Gesellschaft und der Wahrung des Rechts der einzelnen Bürger, sondern dem Machterhalt der Nationalsozialisten. Dies führte dazu, dass Gegner des Systems und diejenigen, die durch das Raster des nationalsozialistischen Menschenbildes fielen, entrechtet wurden.

Die "Gleichschaltung" des Rechtswesens geschah unter Zwang, aber ein großer Teil der Juristen war bereit sich einzufügen. Sie erfuhren dadurch einen Geltungs- und Machtzuwachs, etwa wenn sie in die SS eingegliedert wurden; sie sollten und mussten dann aber auch im Sinne der Machthaber und des Systems funktionieren.

Politisch-staatliche Verhältnisse, die die Gewaltenteilung, die Unabhängigkeit der Justiz einschränken oder sie aufheben und sie  zum Diener von Machtgruppen und ihrer Politik machen, bringen Rechtsunsicherheit, Willkür in der Rechtsprechung, Tendenzurteile und juristische Übergriffe hervor. Eine der schlimmen Seiten im Leben unter dem Nationalsozialismus war die Rechtsunsicherheit. Sie betraf jeden - jedem konnte es passieren, dass er in Verdacht geriet und der Justiz überstellt wurde oder juristische Folgen tragen musste - es traf aber vor allem diejenigen, die sich nicht einfügten oder missliebig waren, wobei es oft schon genügte, irgendeinem zu missfallen.

Es gibt keinen "guten" Nationalsozialismus und Hitler war kein "wohlmeinender" Diktator, der "das Beste" für sein Volk wollte, der dann aber "durchdrehte" oder dem andere in den Arm fielen. Der Nationalsozialismus war von Anfang an totalitär, machtgierig, rassistisch, gewalttätig, geschichtsrevisionistisch, kriegsbereit ... Alles andere war Taktik. Man konnte das wissen. 

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So geht es in die Diktatur ...

Mit dem "Ermächtigungsgesetz" von 1933 gab der Reichstag und führende Kreise Deutschlands Hitler freie Bahn. Seine Zusage auf eine kontrollierte Anwendung des Gesetzes war ein leeres Versprechen. Die Hoffnung, ihn und seine Genossen in konstruktive Bahnen lenken zu können, täuschte.  

Ist ein diktatorisches Regime einmal installiert, wird es ihm immer darum gehen, seine Macht auszudehnen und zu erhalten, wenn es zweckdienlich erscheint auch zu missbrauchen - mit Beugung des Rechts, mit Verdrehung von Tatbeständen, mit Unterdrückung und Gewalt - das ist systemimmanent. Immer werden Autokraten und Diktatoren bestrebt sein, sich der Opponenten und Missliebigen zu entledigen. Man wird sie als "Kriminelle", "Kranke", "Verführte", "Staats-", "Volksfeinde", "Terroristen" darstellen und versuchen sie "auszmerzen" oder zu vertreiben. Man trifft Maßnahmen, die das öffentliche Leben und seine Einrichtungen unter die Kontrolle des Regimes bringen. Besonders wichtig ist es autokratischen oder diktatorishen Regimen, sich die Justiz dienstbar zu machen. Die Herrschenden werden sich das "Meinungsmonopol" sichern, denn das Volk muss ja "bei der Stange" gehalten werden, abweichende, kritische Gedanken und Bewegungen können nicht zugelassen werden oder sollen gar nicht erst aufkommen. Und immer werden die Machthaber ihre partiellen Interessen über die Orientierung am umfassenden Wohlergehen des Volkes stellen, obwohl sie stets behaupten dieses zu vertreten; sie werden nach eigenem Gutdünken handeln und - da unkontrolliert und undiskutiert - falsche und oft verhängnisvolle Entscheidungen treffen. 

Das alles müsste man aus der Geschichte gelernt haben und auch in der Gegenwart beobachten können. Doch leider zeigt der Blick in das Weltgeschehen, dass Menschen immer wieder den populistischen Parolen von Politikern, die sich als "starke Männer" präsentieren, Gehör schenken, ihren vollmundigen, aber unsicheren, illusionären oder gefährlichen Versprechungen - zu Auswegen aus Krisen, auf (Wieder-)Herstellung nationaler Größe, über die Schaffung von Sicherheit und die Aufwertung sich deklassiert Fühlender - unkritisch vertrauen und in der Hoffnung auf Einlösung der Versprechen bereit sind, den Weg der Führer in autokratische oder diktatorische Verhältnissen mitzugehen. Es kann in schwierigen Zeiten verlockend sein, einfach erscheinende totalitäre Lösungen und autoritäre Entscheidungen dem mühsamen Aushandeln von Beschlüssen in demokratischen Prozessen vorzuziehen, auch wenn diese mehr Beteiligung, Rationalität und Berücksichtigung unterschiedlicher Interessen versprechen.

Nach diesen Exkursen zurück zu meiner Kindheit in Cham:

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Die GIs waren freundlich zu uns Kindern

Nachdem die Amerikaner Cham besetzt hatten, mussten wir unsere Wohnung verlassen. Amerikanische Offiziere zogen in die Villa ein und auch ein aus dem KZ befreiter Jude, Herr K. Wir wurden in der auf dem Berge liegenden Wallfahrtskapelle einquartiert, wo wir auf Decken schliefen. Bald durften wir aber zurückkehren. Die Amerikaner hatten für uns „little nice children“ Schokolade in unserem Zimmer hinterlassen. Wie uns Herr K. sagte, seien die M.-Jungen vor uns da gewesen und hätten die Schokolade an sich genommen. „Großzügig“ gaben sie einige kleine Stücke an uns ab.     

In der Folge gestaltete sich das Verhältnis zwischen Besatzungsmacht und Einwohnern freundlicher - wenigstens aus meiner kindlichen Perspektive. Meine Mutter machte die Bekanntschaft mit einem jungen christlichen Amerikaner, der uns manchmal Nahrungsmittel aus dem Bestand der Army brachte. Wenn wir in die Stadt gingen, riefen amerikanische GIs hinter meiner kleinen Schwester her: „Hey, little girl!“, zogen sie scherzhaft am Zopf und schenkten uns Kaugummi und Schokolade. Auf meine Schwester muss die Nazi-Propaganda nachgewirkt haben, sie reagierte meist unwirsch. Ich erinnere mich an den Ausspruch: „Ich mag dich nicht, du Meikaner!“ Mir war das gar nicht recht, denn ich profitierte vom niedlichen Aussehen meiner Schwester.

           


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Das Ende der nationalsozialistischen Hybris: Amerikanische Soldaten beim Einmarsch in München. Sie entfernen das Ortsschild "München. Hauptstadt der Bewegung" (Bildquelle: Südddeutsche Zeitung)

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GI.s verteilen Süssigkeiten an Kinder (Bildquelle: BR 24)

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Kindheitserlebnisse in Cham

Aus dieser Zeit wäre manches zu erzählen, was nicht direkt mit Kriegsfolgen zu tun hatte. Nur eine Geschichte: ich hatte schon erwähnt, dass meine Schwester bei der Flucht aus Oels unbedingt ihren Teddybären mitnehmen wollte, ein Kerlchen mit Sepplhut und Trachtenhose. Er hatte die Flucht bis Cham mit uns überstanden. Einmal gingen wir hinter unserer Mutter her auf der Brücke über den Regen (Fluss), die im Film „Die Brücke“ der umkämpfte Hauptschauplatz ist – ihre Sprengung war verhindert worden. Wir stritten uns, wer den Teddy tragen sollte. Im beiderseitigen Trotz setzen wir ihn am Brückengeländer ab und gingen weiter. Als unsere Mutter das bemerkte, eilten wir wieder zurück, aber da war der Teddy schon weg. Natürlich gab das Tränen.

Da unsere Eltern mit Arbeit und Überlebensbemühungen beschäftigt waren, hatten sie wenig Zeit für uns Kinder. Wir spielten oft vor dem Haus, im Garten oder auf dem langen Treppenaufgang zum Haus, auf dessen Umfassungsmäuerchen interessante Insekten krabbelten oder sich Eidechsen und Kreuzottern sonnten.

Manchmal nahmen mich die älteren M.-Buben mit auf ihre „Streifzüge“. Das brachte mich in einige gefährliche Situationen.

So ließen sie mich unter den Zaun eines Army-Camps hindurchkriechen, um Konserven zu holen, die in einer Grube mit überalterten Lebensmitteln verbrannt wurden. Das war hoch riskant, denn das Personal auf den Wachtürmen hatte den Befehl auf Eindringlinge zu schießen. Das „Unternehmen“ flog auf, als ich eine Dose nach Hause brachte.

Ein andermal war ich dabei, wie sie herumliegende Munition einsammelten. Sie warfen sie in ein Feuer und warteten hinter einer Mauer auf ihre Explosion.

Hier zeigen sich die beiden M.-Jungen von ihrer freundlichen Seite - links in der Mitte meine Schwester und ich.

Ich zog aber auch allein durch die Gegend. Beeindruckt haben mich die Figuren und Stationen der Leidensgeschichte Jesu auf dem Kreuzweg zur Kapelle auf dem Berge. 

Einmal fuhr ich mich einem kleinen Schlitten kopfüber den Weg zur Stadt hinunter und prallte gegen eine Bank (die heute noch steht). Ich blieb ohnmächtig liegen. Leute, die vorbeikamen, meldeten oben im Haus, da unten liege ein toter Junge. Als meine Mutter mit anderen Leuten herunterkam, hatte ich mich schon wieder aufgerappelt – offenbar ohne Schaden. Auf Befragen tat ich so, als wüsste ich von nichts.

Ich muss öfters einen Schutzengel an der Seite gehabt haben. 

Kreuzigungsszene bei der Kapelle am Ende des Kreuzweges

Die Kapelle am Kalvarienberg in Cham

Blick ins Innere der Kapelle  



                                          

Dies ist der Weg des Tieffliegerangriffs und der unglücklichen Schlittenfahrt - ganz unten rechts ist die Bank, an die ich geprallt bin.
 

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Hamstergänge

Wie meine Mutter schreibt: richtige Not litten wir in Bayern nicht. Die Nahrungsmittel, die wir durch Lebensmittelkarten zugeteilt bekamen, reichten nicht aus, um satt zu werden. Das, was meine Mutter aufzählt und mehr, wurde durch „Hamstern“ beschafft, obwohl das verboten war. Sonntags ging mein Vater über Land zu den verstreut liegenden Bauernhöfen. Er nahm mich mit, denn ein kleiner magerer Junge erweckt Mitleid. Beim Hamstern war mein Vater sehr erfolgreich.

Ein Erfolg war nicht immer und nicht leicht zu erreichen. Kamen wir bei einem Bauernhof an, mussten wir erst einmal den Hof überqueren. Da liefen kläffende und bissige Hunde an Rollketten herum. Andere Tiere wie Gänse oder Schafböcke begrüßten uns auch nicht gerade freundlich. So wurde mein Vater einmal von einem Hammel fortgetragen, der ihn hinterrücks unterlaufen hatte. Der Ritt meines Vaters auf dem Hammelrücken sah für mich sehr komisch aus, für ihn war das weniger lustig, zumal er davon einige Schürfwunden an empfindlichen Teilen davontrug. Die Bauern beobachteten das Ankunftsgeschehen auf dem Hof meist hinter den Fenstern ohne einzugreifen, wahrscheinlich mit Schadenfreude. Hatten wir den Kordon des tierischen „Empfangskomitees“ durchschritten, klopften wir an der Tür an, und, wenn wir Glück hatten, wurden wir eingelassen. 

Natürlich durfte man nicht „mit der Tür ins Haus fallen“. Man musste erst einmal die Reserve durch freundliches Gesprächsgeplänkel überwinden, über den schönen Hof, das Wetter, die Feldarbeit, die Ernte, Klagen über die Zeit oder mit Neuigkeiten aus der Stadt.  War der Widerstand gebrochen, kam man zur Sache: ob sie nicht etwas für eine hungrige Flüchtlingsfamilie mit kleinen Kindern übrig hätten, Milch, Eier, Speck usw. Meist kam es dann zu einem Tauschhandel. Geld war nichts wert, also bot man von dem wenigen, was man gerettet oder - oft von Amerikanern - geschenkt bekommen hatte: Zigaretten, Kaffee, Kleidung, Gold- oder Silbergegenstände … Manchmal hatte mein Vater zu einer Bauernfamilie durch mehrfache Besuche eine freundliche Beziehung aufgebaut und sie gaben aus Mitleid ab, ohne etwas dafür zu verlangen. Ich entsinne mich auch, wie Bauersfrauen den Ofen öffneten und für „den Buam“ köstliche Dampfnudeln hervorholten.

Einmal hatten wir eine Martinsgans eingetauscht. Sie wurde lebendig im Rucksack verstaut. Auf dem Heimweg begegnete uns ein „Landjäger“. Wir grüßten ihn freundlich und hofften, dass das Tier sich ruhig verhalten würde. Sie schnatterte tatsächlich erst los, als der Polizist vorüber war. Wahrscheinlich hat er beide Augen zugedrückt.

Als meine Frau und ich im Oktober dieses Jahres von einer Reise nach Kroatien zurückfuhren, wurden wir über Cham umgeleitet. Ich benutze die Gelegenheit, um die Stätten meines Cham-Aufenthalts aufzusuchen. Tatsächlich fand ich alles dank meiner Erinnerung wieder: die Villa der Familie M. (heute verlassen und überwuchert). Wir stiegen den Kreuzweg zur Kapelle hinauf und verweilten in ihr. Auch auf den Weg zur Stadt, wo uns die Tiefflieger angriffen, und auf die Unglücksbank blickten wir hinunter. Das hat mich alles sehr bewegt und gab den aktuellen Anlass, diese Erinnerungen niederzuschreiben.

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Übersiedlung nach Württemberg

Unser Aufenthalt in Cham hatte ein Ende, als mein Vater nach Esslingen versetzt wurde. Meine Mutter berichtet:

„Von Cham wurde Vati nach Stuttgart geholt, von seiner Direktion, die dort ihre Arbeit wieder aufgenommen hatte. In der Abteilung Verkehrskontrolle wurde er als Fachmann wieder gebraucht. Seine Breslauer Papiere waren bereits alle eingetroffen. Seine Abteilung arbeitete erst in Esslingen. Er suchte dort eine Wohnung für uns, fand aber keine. So wohnten wir im nahen Plochingen einige Zeit im Gasthaus zur Krone und zogen dann in eine Flüchtlingsbaracke am Rande der Stadt, damals noch ein Dorf. Anders kamen wir nicht unter. Es war für mich wieder nicht leicht. Es kostete Nerven unter Menschen aus einfachsten Verhältnissen zu wohnen, die der Krieg sehr egoistisch geprägt hatte. Als dann in der Güterabfertigung eine bescheidene Dienstwohnung ausgebaut wurde und wir sie bekamen, hatten wir es leichter. Aber auch dort lebten wir zuerst unter primitiven Umständen, in zwei Zimmern mit Kammer, Flur und Klo, ohne Bad, ohne Heizung, nur mit einem Kochherd im Wohn-Küchenraum. Wäsche musste mit der Hand gewaschen werden. Wir hatten alles verloren und ich musste den Haushalt, so gut es ging, wieder aufbauen.

Vati fiel eine Zeit lang fast ganz aus, da er erst von den Amerikanern interniert wurde, dann im Eisenbahnausbesserungswerk Oberesslingen harte körperliche Arbeit leisten musste und in der Folge zu Rehabilitierungsmaßnahmen abwesend war.

Es war Hungerzeit. Ich pachtete von der Bahn einen Garten, den wir mit viel Arbeit herrichteten und in dem wir Gemüse, Tomaten, Salat und Beeren anbauten. Obst bekamen wir von Verwandten aus Stuttgart. Auch auf der Schwäbischen Alb hatte ich eine Breslauer Freundin, von der ich ihre Lebensmittelkarten bekam. Sie brauchte sie nicht, weil sie bei ihren Schwiegereltern in einer kleinen Landwirtschaft lebte. Von den Nebenerwerbs- und Kleinbauern in Plochingen war nichts zu erwarten, sie waren selber arm. Oft bin ich mit nur drei gekochten Kartoffeln in den Garten umgraben gegangen, weil ihr sonst nichts gehabt hättet. Ich fuhr noch ein paar Mal die weite Strecke nach Cham, um Mehl und einmal sogar eine Gans zu holen.

Unterstützung bekamen wir von Mitgliedern der evangelischen Gemeinde, die manches Lebensnotwendige für uns besorgten. Pfarrer K. stand uns als treuer Begleiter zur Seite, wie oft hat er mich gut beraten und voller Freundschaft geholfen …“

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Hungerzeit

Ich breche hier die Schilderung meiner Mutter ab, die sich noch auf Zeiten erstreckt, in denen es uns langsam wieder besser ging. Ich ergänze ihren knappen Bericht mit eigenen Erinnerungen.

Auch ich erinnere mich an Hunger und Kälte. In unserem neuen Lebensumfeld war es schwer, Nahrungsmittel über die unzureichenden, durch Lebensmittelkarten zugeteilten Rationen hinaus zu bekommen. Oft waren Mehl und Brot in den Läden schon ausgegangen, wenn wir kamen. Fragten wir Landwirte, die ein paar Kühe oder Ziegen hielten, nach etwas Milch oder anderen landwirtschaftlichen Produkten, war die Antwort: “Mir hen selber nix.“ Manchmal gaben uns dann einheimische Frauen, die meine Mutter über die Kirchengemeinde kennen gelernt hatte, von der kostbaren Milch ab, die sie von Bauern erhalten hatten. 

Einmal stand ich vor meiner Mutter und bat um eine Scheibe Brot. Sie verweigerte mir diese, da das Brot noch die ganze Woche reichen musste. Ich sagte zornig zu ihr: „Wenn du einmal alt bist, gebe ich dir auch nichts zu essen.“ Es fällt mir noch heute schwer, altes Brot wegzuwerfen.

Morgens gab es eine dünne Mehlsuppe und Zichorienkaffee, ehe ich in die Schule ging. Im Winter herrschte im Raum eisige Kälte, die Fensterscheiben waren gefroren und mit Eisblumen bedeckt. Glücklicherweise gab es in der Schule Schulspeisung, von den Amerikanern, hauptsächlich warme Suppen oder Nudeln mit kleinen Fleischeinlagen. Eine Lehrerin, Frau R., hatte Mitleid mit uns und gab mir heimlich Reste in einem Blechbehälter mit. Da ich auf dem Schulweg hin und her hüpfte, war oft die Hälfte im Schulranzen verschüttet, wenn ich zu Hause ankam. Ein Fest war es, wenn uns – selten - ein Care-Paket von amerikanischen Christen mit Grundnahrungsmitteln, Süßigkeiten und Gebrauchsartikeln (z. B. Seife) zugeteilt wurde. 

Es schien mir wie im Schlaraffenland, als bei einer Erntedankfeier Brezeln aus Weißmehl und Weintrauben auf einer Stange in die Kirche getragen wurden. Ich konnte es kaum glauben, dass ich davon eine Brezel und einen Traubenstand abbekam.

Mit einer anderen Eisenbahner-Flüchtlingsfamilie aus Schlesien, die im Bahnhof wohnte, Familie F., schlossen wir Freundschaft und halfen uns gegenseitig aus, auch mit selbst produzierten Lebensmitteln.

Um in den Genuss von Fleisch zu kommen, hielten meine Eltern Karnickel. Jeder von uns Kindern bekam eins zur Betreuung. Wir gaben ihnen Namen und liebten sie. Immer wieder verschwand eines. Es hieß: „Wir mussten sie weggeben.“ Sonntags gab es dann Braten, ohne dass wir wussten, woher der kam. Herr F. vom Bahnhof hatte die Tiere geschlachtet. Seitdem kann ich Karnickelbraten nur mit einem untergründigen Widerstand essen, obwohl er - gut zubereitet – auch mir schmeckt.

Wir Kinder versuchten uns bei der Nahrungsbeschaffung nützlich zu machen. Wir trugen Mist in den Garten, beschafften Gras für die Karnickel, gingen mit zum Bucheckern- und Pilze-Sammeln in den Wald, pflückten Lindenblüten für Tee. (Die Bucheckern wurden in die Ölmühle gebracht und man erhielt Öl dafür.) Auf den Bahngleisen sammelten wir Kohlen, wo sie von vorbeirollenden Kohlezügen herabgefallen waren. Am "Kohleklau" von den Waggons, den viele betrieben, beteiligten wir uns als Eisenbahnerkinder nicht. Wir hatten zudem Respekt vor den Bahnpolizisten mit ihren scharfen Hunden, sie verwehrten uns auch das Überqueren der Geleise, wenn wir einen Abkürzungsweg zu unserem Garten nehmen wollten.

Im Laufe der Zeit schlossen wir mit Einheimischen nähere Bekanntschaft - meist Zugezogene. Ich denke gern an einige dieser Bekannten, die zu uns standen, zurück. Bei unseren Besuchen bewunderte ich ihr intaktes Zuhause. Unter ihnen war eine verwitwete Dame (immer schwarz gekleidet), Frau R., die aus Stuttgart nach Plochingen verzogen war. Es war für mich etwas Besonders, wenn sie uns in ihrem vornehmen Wohnzimmer empfing. Auf einem Tisch stand immer ein Teller, gefüllt mit "Gutsle" (kleines Gebäck). Das waren für uns Kinder ganz ungewohnte Köstlichkeiten, auf die wir "zulangen" durften.  

Trotz aller Bemühungen und Zuwendungen waren wir Kinder unterernährt und krankheitsanfällig. Ich entsinne mich an einen Krankenhausaufenthalt in Esslingen auf Grund von "Diphterie-Bazillen" mit Mandelentfernung und an die Verschickung in ein "Kindererholungsheim" in Bad Friedrichshall-Jagstfeld. Das Heim habe ich in übler Erinnerung, dort wurden Kinder mit Regeln drangsaliert und mit Grießbrei gemästet. Bei diesen Aufenhalten kam ich mir verlassen und ausgesetzt vor. Eltern wurden damals von solchen Einrichtungen möglichst ferngehalten und der Umgang mit Kindern war wenig empathisch.

Unsere Eltern waren durch all die Strapazen gesundheilich ebenfalls beeinträchtigt, oft reizbar, wir wurden angehalten sie nicht  durch "Widerspenstigkeit" "aufzuregen", vor allem nicht unsere Mutter, die Herzbeschwerden bekam. Außerdem hatten die schwierigen Verhältnisse die Beziehung der Eheleute belastet. In den Kriegs- und Nachkriegeszeiten lag oft die größte Last der Verantwortung auf den Frauen, die große Leistungen vollbrachten. 

Auch in dieser Hinsicht war unsere Kindheit nicht unbekümmert.    

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Flüchtlingserfahrungen

Plochingen war im Krieg von Bombenangriffen verschont geblieben, obwohl es ein großer Einsenbahnknotenpunkt war. Die meisten Einheimischen konnten sich nicht vorstellen, was Vertriebene durchgemacht hatten. Dass auch sie einmal Hab und Gut besessen und in geordneten Verhältnissen gelebt hatten, schien ihnen kaum glaublich. Die Neuankömmlinge wurden als lästig empfunden. 

In der „Volksschule“ war ich als Flüchtling Außenseiter, schon von der Kleidung, aber auch von der Sprache her. Alle sprachen Schwäbisch und ich bemühte mich so schnell wie möglich, diesen Dialekt zu lernen. Auch die Schulsprache war Schwäbisch. Nur, wenn „Lesen“ auf dem Stundenplan stand, sollte Hochdeutsch gesprochen werden. Der Lehrer sagte dann: „So, jetzt schwätze mr nemme Schwäbisch, sondern wir sprechen Hochdeutsch.“  Wenn das nicht so recht gelang, hieß es: „Der Flüchtling soll lesen.“ Das hob nicht gerade meine Beliebtheit.

Wenn etwas abhanden kam, war es natürlich der Flüchtlingsjunge. So waren einmal die Handschuhe eines Mitschülers verschwunden. Der Lehrer, eigentlich ein feinsinniger und kränklicher Heimatforscher, Herr M., bezichtigte mich des Diebstahls. Meine Mutter kam dann in die Schule, und es wurde eine Untersuchung angestellt. Es stellte sich heraus, dass ein einheimischer Schüler, Fabrikantensohn, die Handschuhe mitgenommen und weggeworfen hatte, um dem Besitzer einen Streich zu spielen. Er hatte auch mich oft gehänselt und tyrannisiert. Weinend tat er dann Abbitte und ließ mich in Zukunft in Ruhe.

Meine Mutter ließ sich schließlich in den Elternbeirat wählen, auch um der Diskriminierung der Flüchtlingskinder entgegenzutreten. Trotzdem versuchte der Klassenlehrer zu verhindern, dass ich die Aufnahmeprüfung in die „Oberschule“ in Esslingen machte. Er war der Meinung, es ginge nicht an, dass der "Flüchtling" die weiterführende Schule besuchte, wo doch nur ein Kind unter den einheimischen - eben der erwähnte Fabrikantensohn - dazu ausersehen sei.  

Übrigens fiel es meinen Eltern nicht leicht, mich in die Oberschule (heute: Gymnasium) zu schicken, da dies Schulgeld kostete. 

Erwähnenswert ist noch, dass Disziplinierungsmaßnahmen und Einstellungen einiger Lehrer aus der Nazi-Zeit noch lange blieben.


Schulklasse 4a der Volksschule Plochingen trägt bei einem Kinderfest den "Stock" zu Grabe, der bis dahin häufig gebraucht wurde. Ich bin in der rechten Reihe hinter dem Lehrer der zweite. 


Bezeichnenderweise hatte ich nach meiner Aufnahme in das Georgii-Gymnasium in Esslingen kaum mehr Kontakt mit  Plochinger Klassenkameraden. Meine Freunde kamen nun aus dem Gymnasium, wobei die engsten auch Flüchtlinge waren. 

Zeitweilig besuchte ich die traditionsreiche Internatschule der Landeskirche im Kloster Maulbronn. Sie war vor allem für Pfarrerssöhne vogesehen und das Schulziel war, sie auf das Theologiestudium vorzubereiten. Ich beeindruckte zwar meine Mitschüler mit meinem "unkoventionellen" Verhalten, aber irgendwie passte ich nicht in das Milieu. Meine Eltern und ich hatten den Eindruck, die Lehrkräfte hielten es für unpassend, dass ein nicht aus einer alten württembergischen Pfarrersfamilie stammender Zugezogener die Schule besuchte. Zumindest erwartete man von einem solchen Aufgenommenen passendes Verhalten. Nachdem ich ein "Ultimatum" wegen heute lächerlich erscheinender Vorkommnisse erhalten hatte, nahmen mich meine Eltern aus dem "Seminar" und ich ging wieder ins Georgii-Gymnasium.

Doch zurück zu der frühen Plochinger Zeit.   
 
Wir Geschwister spielten allein oder mit anderen Flüchtlingskindern, die einheimischen Kinder schnitten uns, bis auf einige, die auch Außenseiter waren. 
 
Die „Barackenkinder“ bildeten eine Bande, in der ich mitlief und an nicht immer koscheren „Spielen“ und Unternehmungen teilnahm. Die Eltern, auch unsere, waren immer beschäftigt und so standen wir Kinder kaum unter Aufsicht. Die Bande plünderte einmal einen Kirschbaum auf der Obstwiese vor der Baracke. Ich war nicht mit auf den Baum geklettert, stand unten Wache, ließ mir aber einige Kirschen schmecken, die mir herabgeworfen wurden. Als sich der Besitzer näherte, flüchteten die anderen, älter und gewitzter als ich, mich hielt er fest, verabreichte mir eine Tracht Prügel und zeigte mich und meine Eltern an. Unsere Namen wurden mit denen anderer „Gesetzesübertreter“ auf Litfaßsäulen öffentlich bekanntgegeben, mit Nennung des Vergehens: „Obstdiebstahl“. Natürlich hieß es unter den Alteingesessenen: „Typisch, Flüchtlinge!“.

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Kindheitserfahrungen

Vieles von dem, was wir unternahmen, war gefährlich. Wir sprangen vom „Teufelsbrückchen“ in einer Waldschlucht auf Laubsäcke hinunter, krochen durch rattenverseuchte Abwässerkanäle, schipperten auf zusammengebundenen Bohnenstangen über überschwemmtes Gartengelände, ketteten das Boot des Neckar-Fischers los und trieben im Fluss, schossen mit Pfeil und Bogen auf Katzen, turnten in Abstellschuppen herum, bauten „Lager“ im Wald, suchten nach „Schätzen“ in verlassenen Gebäuden, riefen dem hinkenden Bierkutscher Spottverse nach - wofür mir meine Eltern „den Hintern versohlten“ – und anderes mehr.

Einige meiner Unternehmungen brachten mich an den Rand des Todes.

Meine Schwester zog mich aus den tosenden Wassern unter einem Wehr, in die ich gefallen war. Schwimmen konnte ich noch nicht, das lernte ich im Neckar, wobei ich in gefährliche Nähe der damals noch vorhandenen Stromschnellen geriet.

Ohne dass es meine Eltern wussten, begleiteten ich und ein Freund einen Spediteur der Güterabfertigung bei  Auslieferungsfahrten. Wir saßen auf der offenen Ladefläche seines dreirädrigen Kleinlastwagens, der mit Holzkohle betrieben wurde. Für unsere Hilfe beim Auf-, Abladen und Austragen der Pakete erhielten wir 50 Pfennige. Nach einer Fahrt bei Kälte und strömenden Regen erkrankte ich schwer an einer Lungenentzündung. Nur die auf dem Schwarzmarkt besorgten Penicillin-Spritzen eines mit meinen Eltern befreundeten Arztes, Dr. F., retteten mir das Leben. (Ich habe die Spritzen in den Hintern als äußerst schmerzhaft in Erinnerung.)

Wir Nachkriegs- und Flüchtlingskinder hatten eine Freiheit, die Kinder heute nicht mehr kennen. (Sie unterliegen Gefahren, die wir kaum kannten, z.B. dem Verkehr - obwohl es auch schon damals Opfer gab. So begleitete meine Schulklasse einen Kameraden zum Grabe, der unter einen Lastwagen gekommen war.) 

Hauptsache war, dass wir um 8 Uhr abends zum Abendessen da waren. Sonst „setzte es etwas“. 

Ich möchte die Erfahrungen dieses ärmlichen, ausgesetzten, aber in der freien Zeit ungebundenen Kinderdaseins nicht missen, aber dass wir sie überlebt haben, ist ein wahres Wunder.

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„Entnazifizierung“

Zuerst ließen die Amerikaner meinen Vater unbehelligt. Im Zuge des „Gesetzes zur Befreiung vom Nationalsozialismus und Militarismus“ vom 5. März 1946 wurde er als Parteimitglied und Staatsbeamter als „belastet“ eingestuft und verlor seinen Beamtenstatus. Er musste als Hilfsarbeiter bei geringster Entlohnung schwere körperliche Arbeit leisten, was ihn bei seiner Konstitution an den Rand des physischen und psychischen Ruins brachte. Ende 1947 wurde er vor eine „Spruchkammer“ geladen, die seinen Fall untersuchte. Er wurde freigesprochen, wegen seiner Parteizugehörigkeit als „Mitläufer“ kategorisiert und musste ein „Sühnegeld“ von 50 Reichsmark und die Gerichtskosten von 260 RM bezahlen. Das war verhältnismäßig wenig, aber bei seinem geringen Einkommen doch belastend. Einige Zeit danach wurde er von der Reichsbahn wieder als Inspektor eingesetzt.

 
Spruchkammerbescheid bei der "Entnazifizierung"

Mein Vater nahm das Urteil widerspruchlos hin. Aber „mitgegangen, mitgefangen …“, das galt nicht für alle. Was ihn ärgerte, war, dass andere, die das Nazi-System wesentlich mehr als er unterstützt hatten, keine beruflichen Folgen auf sich nehmen mussten. Mit Hilfe von falschen Angaben im Meldebogen und „Persilscheinen“ von Kumpanen, die ihnen eine „weiße Weste“ attestierten, galten sie nicht als belastet und konnten in ihren Ämtern verbleiben. So wurde mein Vater zu einem leitenden Beamten in der Reichsbahndirektion einbestellt, der  durch die grob geknüpften Maschen des Entnazifierungsverfahrens geschlüpft war. Der drohte ihm dienstliche Nachteile an, wenn er über seine – des Vorgesetzten - Vergangenheit nicht Schweigen bewahre.

Die Saat dieser Nazis, die ihre rassistischen und faschistischen Einstellungen unter einem demokratischen Deckmantel in der Nachkriegszeit verbargen und weiterverbreiteten, ist inzwischen aufgegangen.

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Die Nachkriegszeit geht zu Ende

Mit der „Währungsreform“ 1948 und der Gründung der Bundesrepublik 1949 hatte der Hunger, die unsicheren Verhältnisse und die Zwangsbewirtschaftung ein Ende. Ich erinnere mich, wie plötzlich in den Schaufenstern der Läden all das auftauchte, was vorher nicht erreichbar oder Mangelware gewesen war. Nur fehlte das Geld, um es zu kaufen. Es dauerte lange, bis wir in einigermaßen zufriedenstellenden Verhältnissen leben konnten. Den Wohn- und Lebensstandard, den meine Eltern im Vorkriegs-Breslau hatten, erreichten sie nie mehr. Sie blieben „Vertriebene“ (laut Ausweis), die Heimat, Wohnung, Vermögen und die Einbettung in gesellschaftliche und verwandtschaftliche Beziehungen verloren hatten. Sie mussten in ihrem neuen Lebensumfeld weiter um gesellschaftliche Anerkennung und die Sicherung der ökonomischen Lebensgrundlagen kämpfen.

Nach 5 Jahren Trennung 1950 ein erstes Wiedersehen mit unserer Oma aus der "Ostzone", in Plochingen.  Im Hintergrund die Güterabfertigung, in der wir wohnten. Ganz rechts meine Schwester neben der Cousine Elke. Links stehe ich.

Die alte Güterabfertigung in Plochingen (unsere Wohnung im Vordergrund oben). Das Gebäude existiert nicht mehr. ( Bild: www.bahnbilder.de / Claus Seifert)


Meine Mutter hat akribisch den Hausrat, das sonstige Vermögen in Breslau und den Wert in RM aufgelistet. Es kam eine beachtliche Summe zusammen. Beim „Lastenausgleich“ 1952 – der sehr viel Ärger bei den Besitzenden auslöste – erhielten meine Eltern einen geringen Einheits-Pauschbetrag für den Hausrat und winzige Summen für Spar- und Versicherungseinlagen. Andere, die Haus- und Grundbesitz nachweisen konnten, bekamen mehr.

Bei all diesen für sie einschneidenden Verlusten infolge des Krieges hatten meine Eltern keinen „Flüchtlingskomplex“, der sie in Trauer über das Verlorene verharren ließ oder gar zu revanchistischen Forderungen brachte. Sie hielten das Andenken an Schlesien und Ostpreußen (die Heimat meines Vaters) aufrecht und vermittelten auch uns Bezüge zu unseren Herkunftslandschaften. Sie bemühten sich um Eingliederung in die neue Heimat – etwa durch aktive Teilnahme an örtlichen Einrichtungen und Vereinigungen - und förderten auch bei uns Kindern die Verbindung mit dem Umfeld, in dem wir nach dem Kriege aufwuchsen.

Trotzdem habe ich mich nie ganz mit dem „Schwabentum“ identifiziert, obwohl ich viel davon angenommen habe. Zeit meines Lebens fühlte ich mich überall, wo ich länger lebte und mich einfügte, untergründig „heimatlos“ und blieb irgendwie ein „Flüchtlingskind“.

Kriegserfahrungen, Flucht und Nachkriegszeit haben uns Flüchtlingskinder geprägt, körperliche, psychische Spuren, Deformationen und Dispositionen für das spätere Leben hinterlassen.

Weil ich am eigenen Leib erfahren habe, was Kriege bedeuten, habe ich eine pazifistische Grundeinstellung, für die ich auch aktiv eingetreten bin und die ich weiter vertrete. Kriege sind immer schlimm und in unseren Zeiten und Umständen besonders verwerflich und unzeitgemäß. Es gibt keinen „gerechten“ Krieg, denn Krieg führt immer auf allen Seiten zu Hass, Lügen, Unmenschlichkeiten, Zerstörungen und Folgeschäden. Heutige Kriege können in einem Inferno enden, das noch schlimmer als der 2. Weltkrieg ist. Es sollte alles getan werden, um Kriege zu verhindern. Es gibt immer andere Wege als Krieg.

Unsere Welt und jedes Land hätten es wahrhaftig nötiger, andere Probleme und Aufgaben zu bewältigen als Kriege zu führen oder zu unterstützen. 

Ich kann die Kriegstreiberei nicht gutheißen, die manche deutsche Politiker und Teile der Öffentlichkeit und Medien im Zusammenhang mit den Ukraine-Krieg praktizieren oder befürworten. Wissen diejenigen, denen der Krieg gar nicht schnell genug eskalieren kann, was „Krieg“ wirklich bedeutet? Machen sie sich klar, was daraus werden kann?

Verstehen kann ich auch nicht, wie Menschen Hitler und den "Nationalsozialismus" immer noch und wieder glorifizieren oder rechtfertigen, ihre Verbrechen bagatellisieren und mit denen anderer aufrechnen. Sehen sie nicht oder wollen sie nicht sehen, was dieses Regime für verheerende Auswirkungen hatte, nicht nur für andere Völker, sondern auch für uns Deutsche? Wie kann man sich wünschen, dass Verhältnisse wie unter den Nazis wiederkehren?

Auch das sind Gründe, weshalb ich diese Erinnerungen und die damit verbundenen Recherchen als einer der noch lebenden Zeitzeugen niedergeschrieben habe.


Teil 2: Deutsche und Polen - Die Sichweisen divergieren

21 Die Sicht der anderen - die nachgerückten Polen Gerade lese ich ein interessantes Buch. Es erzählt die Erfahrungen der nach der Flucht/...