Der Ukrainekrieg lässt bei
mir Erinnerungen wach werden, Erinnerungen an Bombardierungen,
Tieffliegerangriffe, Erlebnisse auf dem Weg der Flucht aus meiner Geburtsstadt
Breslau.
Ich wurde 1940 geboren, im
2. Kriegsjahr. Nach der Niederlage Polens marschierten deutsche Soldaten in
Norwegen, Dänemark, den Beneluxstaaten und Frankreich ein. Die deutsche Luftwaffe
griff britische Streitkräfte an und bombardierte englische Städte.
In Breslau war allerdings
lange wenig von Kriegseinwirkungen zu spüren. Die Stadt galt als
„Luftschutzbunker Deutschlands“ und war mit allem Lebensnotwendigen versorgt.
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So lebten wir in Breslau vor der Vertreibung
Natürlich habe ich keine
Erinnerungen an meine ganz frühe Kindheit. Meine Kenntnisse bis zu den ersten
Erinnerungen beziehe ich aus Fotoalben, die meine Mutter für mich anlegte und
aus Erzählungen meiner nun längst verstorbenen Eltern.
Wir wohnten in einer geräumigen
Drei-Zimmer-Wohnung mit Küche, Diele und Bad in der Hedwigstraße (heute „Sportowa).
Der Teil des großen Mietshauses, in dem sich unsere Wohnung befand, überstand die
Bombardierungen gegen Ende des Krieges. Ich habe das Haus bei meinem Besuch Wroclaws
im Jahre 2013 aufgesucht - zusammen mit einem meiner Söhne. Der einst schöne,
im Gründerzeitstil errichtete Gebäudeteil machte einen heruntergekommenen
Eindruck. Schreitet man über den im Boden vor dem Eingangsportal eingelegten Gruß
„Salve“ hinweg. kommt man in einen abgerissenen Flur, der zum Treppenhaus führt,
auch dieses im desolaten Zustand. Wir sind die Wendeltreppen zu unserer
früheren Wohnung hinaufgestiegen. Es gab immer noch die alte repräsentative
Eingangstür aus Holz. Leider öffnete niemand auf mein Klingeln oder Klopfen, so
dass ich keinen Blick in die Räume meiner ersten Kindheit werfen konnte.
Vielleicht war das auch ganz gut so, denn ich kann mir vorstellen, dass die heutigen Bewohner den Besuch eines unbekannten Mitglieds der ehemaligen deutschen "Besitzer"-Familie mit gemischten Gefühlen aufgenommen hätten (siehe den "Nachtrag" zu diesem Artikel, in dem ich auf die Sicht der "anderen Seite", nämlich den der nach 1945 eingewanderten Polen eingehe).
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Meine Schwester und ich 1943 vor dem Hauseingang - Im Hintergrund der im Boden eingelegte Gruß "Salve" - Bilder werden durch Anklicken vergrößert
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Der Hauseingang 2013
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Die im Boden eingelegte Begrüßung gibt es immer noch |
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Alte Klingeltafel am Haus - Hier war einst unser Namen zu lesen
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Vor der Eingangstür zu unserer früheren Wohnung
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Meine Mutter hat – als dies
möglich war – von unserer neuen Heimat in Plochingen bei Stuttgart aus - die
alte Wohnung mehrfach besucht und mit den neuen polnischen Bewohnern
freundliche Beziehungen geknüpft. Auch sie waren „Vertriebene“, die aus von der
Sowjetunion annektierten Gebieten Polens kamen. Sie erzählten meiner Mutter,
dass sie die Räume in total verwüsteten Zustand bezogen hätten. Russische
Soldaten hatten die Wohnung geplündert und alles, was nicht niet- und nagelfest
war, mitgenommen. Es seien "Barbaren" gewesen, die nicht einmal ein Spülklosett kannten und dieses als Trink- und Waschwasserspender benutzten. Anschließend zerschlugen sie das Becken.
Ich habe die Wohnung in
meinen ersten, lückenhaften Erinnerungen mit ihren schweren Möbeln, gemusterten
Tapeten und konventionellen Wandbildern als ziemlich dunkel in Erinnerung. Im
Flur hing ein Bild Hitlers, wohl in Uniform, das Besuchern signalisieren sollte,
hier wohnen unverdächtige Leute. Wie meine Mutter erzählte, habe ich mich
manchmal vor dem Bild aufgebaut, die Hand grüßend an den Kopf gelegt – wie ich
es bei Erwachsenen sah – und „Heil Papa“ gerufen. (Der wirkliche „Papi“ trug zu
dieser Zeit Uniform und war dienstlich oft abwesend.)
Beeindruckt hat mich auch der große
„Eisschrank“ in der Küche oder im Keller. Regelmäßig brachte ein Kutscher große
Eisblöcke, mit denen das Ungetüm gefüttert wurde.
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An meinem 3. Geburtstag mit Mutter und Schwester in der Wohnung
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Wenn man die Bilder in
meinem Kinderalbum anschaut, bekommt man den Eindruck, meine Eltern und wir
Kinder – 1942 wurde meine Schwester geboren – lebten in einer friedlichen,
heilen Welt.
Ich sehe mich bei Geburtstagstischchen
mit Geschenken stehen, staunend auf geschmückten Weihnachtsbäumen blicken, auf
dem Weg zum „Scheitniger Park“ (heute Szczytnicki) neben meiner Schwester im
Kinderwagen laufen, geführt von einem „Pflichtjahrmädchen“. Andere Bilder
zeigen uns im Breslauer Zoo, in Badeanstalten und „Luftbädern“, immer umsorgt von
einer liebevollen und beim Ausgehen modisch aufgemachten jungen Mutter oder
auch – zeitweilig - begleitet von einem stolzen Vater, dieser oft in Leutnantsuniform.
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Weihnachten 1941
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Im Breslauer Rosengarten 1941
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Fahrt mit der Poykutsche im Breslauer Zoo 1942 (rechts meine Mutter, ich 3. Kind von rechts).
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Verschiedene dieser Stätten
in Breslau habe ich bei meinem Besuch wiedergefunden, so den Park Szczytnicki
und den Zoo, der noch das alte Eingangsportal zeigt. Dabei konnte ich mich auch
an Kindheitserlebnisse erinnern, zum Beispiel die Begegnung mit einem
Elefanten, den meine kleine Schwester mit einem Stöckchen geärgert hatte und der
sie dann bei unserem nächsten Besuch unversehens nass spritzte.
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Eingang zum Breslauer Zoo - Unten: Graffitis an Zoomauer
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Weitere Bilder in meinem
Kindheitsalbum zeigen Aufnahmen von uns Kindern mit unseren Großeltern
mütterlicherseits, die im niederschlesischen Oels lebten (eine halbe Stunde
Zugfahrt von Breslau entfernt). Ich sehe den lächelnden Opa umringt von seinen
Enkeln, von denen ich der älteste war, im begrünten Hof des Hauses sitzen.
Immer trug der pensionierte Eisenbahner Krawatte, dunkle Anzugsweste und -hose,
von denen eine goldene Taschenuhrkette herabbaumelte – würdiger Vertreter einer
vergangenen Zeit. (Stolz erzählte er, dass er beim Bau der Bagdad- Bahn beteiligt war). Ein anderes Bild zeigt ihn und meine Großmutter – sie im
Schürzenkleid – meine Schwester und mich auf den Schultern tragend bei der
Rückkehr von ihrem Garten. Ich erinnere mich, dass Opa mich zu seinen
Bienenstöcken im Garten führte und mir die Imkerei erklärte.
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Die Oelser Großeltern mit meiner Schwester und mir
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Der Opa mit seinen Enkeln 1942
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Auch Olesnica haben mein
Sohn und ich 2013 besucht – interessant war für mich, der ich in Württemberg
aufgewachsen bin, dass Oels zeitweilig mit Württemberg verbunden war, unter dem
Herzog von Württemberg-Oels Silvius Nimrod und seinen Nachfahren, von 1648 bis
1792. Der von mir geschätzte Mystiker Johannes Scheffler (Angelus Silesius)
lebte als Leibarzt am Hofe Nimrods.
Später wurde Oels preußisch.
Das Schloss bestimmte man zum Sitz des jeweiligen Kronprinzen von Preußen. Meine
Mutter berichtete von Begegnungen mit dem wegen seiner Unterstützung des
Nationalsozialismus umstrittenen Kronprinzen Wilhelm und seiner Frau Cecilie
sowie ihrem zweitältesten, mit meiner Mutter ungefähr gleichaltrigen Sohn Louis
Ferdinand, später Chef des Hauses Hohenzollern.
Meine Mutter und ich wurden in den 50-ziger Jahren bei einem Oelser
Treffen in Hechingen und auf der Burg Hohenzollern, dem Stammsitz des
preußischen Königshauses und der Fürsten von Hohenzollern, persönlich von Louis
Ferdinand begrüßt, wobei dieser anscheinend meine Mutter wieder erkannte und
mit ihr ein paar Worte über gemeinsame Jugendzeiten in Oels wechselte. Übrigens
haben wir auch vor den damals in der Christuskapelle der Burg untergebrachten Särgen
Friedrichs des Großen und seines Vaters, des „Soldatenkönigs“, diesen für
Schlesien bedeutsamen Gestalten, unsere Reverenz erwiesen.
Oels wurde wie Breslau am
Kriegsende weitgehend zerstört, bis auf das Schloss, die deutsche Bevölkerung,
auch unsere Großeltern, vertrieben. Mein Großvater starb auf der Flucht in Komotau (heute Chomutov/Tschechien) an
einem Herzschlag, wo er wohl auch begraben werden musste, meine Großmutter mit der Schwester meiner Mutter und ihrem
Sohn landeten in der „sowjetisch besetzten Zone“, in der Lausitz. Von dort aus
besuchte Großmutter uns, die wir in der „Westzone“ Fuß gefasst hatten,
verschiedene Male. Dies wurde ihr von den DDR-Behörden wegen ihres Alters
erlaubt.
Bei unserem Besuch in
Olesnica, dessen historische Gebäude wie in Breslau teilweise wieder aufgebaut
wurden, haben wir nach längerem Suchen die Eisenbahnersiedlung, in denen meine
Großeltern lebten, gefunden, in der Nähe des Bahnhofs. Ich meine das wiedererrichtete Haus, den Hinterhof und auch die etwas
entfernt liegenden Kleingärten identifiziert zu haben.
Bis 1944 war es meinen
Eltern möglich, Ausflüge und Urlaube mit uns zu machen, wie Bilder belegen: zu
meiner Großmutter väterlicherseits nach Stettin, ins Riesengebirge, in die Sudeten.
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Mit meinem Vater 1943 in Großwasser (Ostsudeten)
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2
Kein idyllisches Leben
Aber der friedliche Eindruck,
den die Albenbilder vorspiegeln, täuscht. Das Leben in Breslau zu dieser Zeit
war keine Idylle. Die Fotoalben dokumentieren den Versuch eines Rückzuges in
den privaten, familiären Raum, um wenigstens da eine bürgerlich gesicherte,
gesittete Lebenswelt zu bewahren. Der Versuch war illusionär und scheiterte.
Später – im Rückblick –
schreibt meine Mutter an meine Schwester über die Umstände ihrer Geburt:
„Als Du geboren wurdest, war
ich mutterseelenallein, es war Krieg, Dein Vater war bei der Wehrmacht. Ich
lief mit einem 14-jährigen Pflichtjahrmädchen in der Nacht in die
Universitätsklinik, es gab keine Taxen. Das Mädchen musste allein wieder zurück
in unsere Wohnung, da Wolfram, 1 ½ Jahre alt, allein in der Wohnung war. Sie
musste meiner Mutter ein Telegramm schicken, dass sie sofort nach Breslau
kommen sollte, um Kind und Haushalt zu besorgen, das Mädchen war ja nur bis 17
Uhr da und fehlte oft … Ich blieb 8 Tage in der Klinik, dann kamen wir nach
Hause, meine Mutter blieb noch 8 Tage, dann musste sie zurück. Ich war noch
sehr geschwächt und stand täglich nach Lebensmittel an, besorgte den Haushalt
und Euch. Darauf setzten nachgeburtliche Komplikationen ein. Diesmal konnte
meine Mutter nicht kommen, ich musste allein fertig werden. Als ich mich wieder
aufgerappelt hatte, versuchte ich alles für Euch zu tun. Das Mädchen fuhr, wenn
sie da war, mit Euch stundenlang im Park spazieren, in der guten Luft; im
Reformhaus bekam ich Vollkornnahrung für Euch, Milch gab es wenig. Meine Eltern
brachten frisches Gemüse aus ihrem Garten und Obst für Euch ... Dann fingen die
Luftangriffe an …"
Nicht nur die
Kriegsverhältnisse beeinträchtigten das Leben, die nationalsozialistischen
Machthaber hielten die Stadt mit ihren totalitären Maßnahmen im Griff, übten
Druck auf die Bevölkerung aus, verfolgten Missliebige und betrieben die
„Entjudung“, d. h. die Enteignung und Vertreibung und schließlich die
Vernichtung der jüdischen Bewohner der Stadt. Menschen mit körperlichen,
seelischen und geistigen Behinderungen wurden ausgegrenzt, sterilisiert und
ermordet, in „Kinderfachabteilungen“ praktizierten Ärzte Kinder-„Euthanasie“ –
auch in Breslau. Wie jüdische Menschen wurden Sinti und Roma („Zigeuner“) aus rassistischen Gründen stigmatisiert, deportiert, exekutiert und in Lagern
umgebracht, vielfach sterilisiert. Dass dies auch Breslauer Sinti betraf,
ergibt sich aus zwei Schreiben (1943) an den Erzbischof von Breslau, Adolf
Bertram, in dem dieser (vergeblich) um Schutz für die traditionell katholischen
Sinti-Familien gebeten wird.
3
Die Inhaftierung politischer Gegner und die Deportierung
der Breslauer Juden
Schon 1933 war das
Konzentrationslager Breslau-Dürrgoy eröffnet worden, in dem politische Gefangene,
meist Gegner der Nationalsozialisten aus SPD und KPD unter entwürdigenden
Verhältnissen untergebracht wurden und Zwangsarbeit leisten mussten. Von den
SA-Leuten wurden sie grausam behandelt und oft gefoltert. Der Breslauer
Bevölkerung war dies bekannt, da prominente Häftlinge triumphzugartig durch
Breslau zum KZ geführt wurden, als Abschreckung und Machtdemonstration. Prominente
wie der frühere Reichstagspräsident Paul Löbe wurden besonderen Schikanen
ausgesetzt. Das Lager wurde allerdings
bald wieder aufgelöst und die meisten Inhaftierten in andere KZ verbracht.
Ab 1938 wurden Juden
deportiert, auch aus Breslau, einer für das deutsche Judentum wichtigen Stadt.
Hier lebte vor dem Krieg die drittgrößte jüdische Gemeinde mit einer Vielzahl
an orthodox oder liberal geführten Synagogen und Vereinigungen; mit dem
„Jüdisch-Theologischen Seminar“ an der Universität zur Rabbinerausbildung war
Breslau ein Zentrum des deutschen Reformjudentums.
Zuerst wurden jüdische Polen
in Sonderzügen an die polnische Grenze gebracht und nach Polen abgeschoben.
Auch hier erfolgte der Abtransport demonstrativ unter den Augen der
Öffentlichkeit.
In den Pogromnächten
November 1938 wurden sämtliche Synagogen bis auf eine von der SA zerstört, 2500
jüdische Mitbürger in „Schutzhaft“ genommen und ins KZ Buchenwald verschleppt. Die
„Arisierung“ jüdischen Eigentums – Betriebe, Geschäfte, Hotels, Kaufhäuser - war
Ende 1938 im Wesentlichen „abgewickelt“. Unweit von Breslau wurde 1940 das
Arbeitslager Groß-Rosen eingerichtet, das sich zu einem der schlimmsten KZ entwickelte.
Hier starben bis 1945 etwa 45 000 Menschen, meist Juden. Ein Jahr später wurde
das Internierungs- und Arbeitslager Tomersdorf in Niederschlesien für Juden aus
Schlesien angelegt, vor allem kamen sie aus Breslau. Nach Auflösung dieses
Lagers wurden die Insassen nach Auschwitz, Theresienstadt und Majdanek
geschickt. Im 1940 entstandenen Lager Klettendorf bei Breslau schufteten Juden
an der Reichautobahn von Breslau nach Berlin. Ein weiteres Zwangsarbeitslager
für Juden, zuerst für Frauen, war in Breslau-Neukirch. Im Laufe des Krieges
entstanden Zwangsarbeiterlager, in denen Kriegsgefangene und Ausländer, vor
allem Polen, unter miserablen Lebensbedingungen gefangen gehalten wurden, so in
der Breslauer Clausewitzstraße. In Breslau waren ca. 50 000 ausländische
Zwangsarbeiter beschäftigt, die zu schweren und gefährlichen Arbeiten herangezogen
wurden.
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Eingang zum KZ Groß-Rosen (Bild: www.getyourguide/breslau)
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Im Herbst 1941 begannen die
systematischen Massentransporte deutscher Juden in Gettos, Arbeits- und schließlich
Vernichtungslager der eroberten Gebiete des Baltikums und des Ostens. Im
November 1941 wurden 1005 Breslauer Juden mit Frauen und Kindern als
„Umsiedler“ nach Kowno (Litauen) deportiert. Dort wurden sie zusammen mit
Wiener Juden auf Befehl des SS-Standartenführers Karl Jäger unter den Augen der
Wehrmacht und unter Beteiligung von litauischen Wachmannschaften durch Maschinengewehrsalven
gnadenlos exekutiert.
Nicht nur Sonderkommandos
der SS und der Polizei, sondern auch Soldaten der Wehrmacht beteiligten sich an
Exekutionen von Juden, so im Dezember
1941 beim „Weihnachtsmassaker“ in Simferopol (Krim).
Ab Frühjahr 1942 wurden die noch
verbliebenen Breslauer Juden direkt in Vernichtungslager gebracht. Von 1940 bis
1943 zogen 108 Breslauer Juden den Suizid der Deportation vor.
Von den rund 20 000 jüdischen
Menschen im Jahre 1933 (3,25 % der Einwohner) sollen Anfang 1945 nur noch 200 in
der Stadt übriggeblieben sein. Ihre von der Gestapo geplante Versenkung in der
Oder wurde durch das Kriegsende verhindert.
Auch der Abtransport der
Juden kann den Breslauern nicht verborgen geblieben sein. Sie wurden von der Geheimen
Staatspolizei (Gestapo) und Schutzpolizei aus den Häusern abgeholt, an
Sammelplätze geleitet, in „Judenhäuser“ in der Stadt einquartiert und dann mit von
der Schutzpolizei- und SS-Mannschaften bewachten Sonderabteilen oder -zügen in
die Lager verfrachtet. Die Fahrt ging über Bahnhöfe, wo die – ab 1942 mit dem
gelben Stern gekennzeichneten - Deportierten nicht selten versuchten, Kontakt
mit Umstehenden aufzunehmen, etwa mit der Bitte um Wasser.
Hinter den „Evakuierungen“
genannten Deportationen stand ein ganzer Apparat von Mitwirkenden: Gauleitungen, jüdische Gemeinden (gezwungen), Einwohnermeldeämter, Finanzämter, Polizei,
Reichsbahnverwaltung ...
Meine Mutter berichtete, sie
hätte wohl beobachtet, wie jüdische Nachbarn aus den Häusern geholt wurden und
zu den Sammelplätzen gebracht wurden. Sie fand das zwar nicht gut, aber glaubte
– wie viele – den offiziellen Verlautbarungen, dass sie in „jüdischen
Wohngemeinschaften“ zusammengefasst und schließlich in Regionen im Osten „umgesiedelt“
würden, in denen sie unter sich leben und "Aufbauarbeit" leisten könnten.
Heute wissen wir durch
viele, auch gerichtlich bestätigte Berichte von Betroffenen und Zeugen von den
Ängsten, dem Leid der Opfer, der Willfährigkeit, Gefühllosigkeit oder Unmenschlichkeit
der Mitwirkenden und Täter; es ist nicht zu fassen, wenn dies geleugnet oder
beschönigt wird.
Mein Vater wusste mehr über
die Deportationen und ihre Ziele, unterlag aber der dienstlichen
Geheimhaltungspflicht und teilte meiner Mutter nichts über sein Wissen mit.
4
Ein Eisenbahnbeamter und Offizier vor der
Wahl: NSDAP oder Front
Hier möchte ich etwas zu der
Haltung meines Vaters im sogenannten 3. Reich sagen. Mein Vater war als
Reichbahninspektor in der Reichsbahndirektion Breslau beschäftigt. Sein
Tätigkeitsfeld war die „Verkehrskontrolle“. Diese befasste sich mit der
Statistik und der Abrechnung der Güter- und Personentransporte der Bahn mit dem
Staat. Auf diesem Gebiet war er Fachmann und deshalb wurde er im Krieg als
unabkömmlich erklärt. Er wurde zwar zur Wehrmacht einberufen und entsprechend
seinem Beamtenstatus zum Leutnant ernannt, musste sich aber nur zeitweilig zum
Militärdienst einfinden. Er tat also nicht nur als Beamter, sondern auch als
Militärperson seinen Dienst bei der Bahn.
Die Reichbahn war 1937
„gleichgeschaltet“ worden, d. h. hatte als eigenständige Gesellschaft aufgehört
zu existieren und wurde direkt der Staatshoheit, dem Reichsverkehrsministerium,
unterstellt. Auch das „Führerprinzip“ wurde eingeführt, was u. a. Vorgesetzten
autoritäre Entscheidungsmacht nach unten verlieh und „Untergebene“ zu
kritikloser „Gefolgschaft“ verpflichtete. Die Führungspositionen wurden mit
Nationalsozialisten besetzt und die Mitarbeiterschaft von politisch
„Unzuverlässigen“ „gesäubert“. Von den Mitarbeitern, vor allem von denen im
höheren Dienst, wurde Linientreue und Parteigehorsam gefordert. Auf ihren
Dienstmützen trugen die Eisenbahner das Nazi-Emblem.
„Befördert kann nur der
Beamte werden, der … jederzeit rückhaltlos für den nationalsozialistischen
Staat eintritt und ihn wirksam vertritt“
hieß es in den 1938
erlassenen neuen Bestimmungen für Reichsbahnbeamte.
Die Reichsbahn war ein
unentbehrlicher Faktor bei den Militärtransporten und Judendeportationen.
„Die Reichsbahn ist ein Teil
der Front. Denke daran und handle danach … Räder müssen rollen für den Sieg“
war auf einem Plakat zu
lesen, das sich an die Reichsbahnmitarbeiter wandte. Es entstand 1942 auf
Veranlassung des Staatsekretärs im Reichsverkehrsministerium und stellvertretenden
Generaldirektors der Reichbahn, Dr. ing. Albert Ganzenmüller.
„Der Führer setzt großes
Vertrauen in seine Eisenbahner. An uns liegt es, uns dieses großen Vertrauens
würdig zu erweisen“,
teilte er im „Amtlichen
Nachrichtenblatt der Deutschen Reichsbahn“ mit.
Ganzenmüller war ab 1942 Hauptverantwortlicher
für die Organisation der Judentransporte bei der Bahn. Er ist der einzige
Reichsbahner, gegen den in diesem Zusammenhang später Anklage erhoben wurde (1969).
Es kam aber nie zu einer Verurteilung. Er habe nur seine „Pflicht“ getan und
nichts von der „Endlösung“ gewusst, so redete sich der „Spediteur des Todes“
heraus.
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Aufruf an Eisenbahner 1943 (Bild: R. Dietrich, wikimedia.org. Quelle: Amtsblatt der Reichsbahndirektion Mainz vom 19. Januar 1943, Nr. 2, S. 10) |
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Zerstörte
Lokomotiven, Tender und andere Reste auf Reichsbahngelände Dresden 1945
- Auf einem Tender: "Räder müssen rollen für den Sieg". [Bild (bearbeitet): Richard
Peter in Deutsche Fotothek /wikimedia.org]
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Durch die Abrechnung der
Transporte mit dem Staat – vertreten durch das „Reichssicherheitshauptamt“, das
für die „Judenpolitik“ zuständig war - hatte die Reichsbahn hohe Einnahmen. Nicht
zuletzt wurden Kosten mit dem beschlagnahmten Vermögen der Deportierten finanziert.
Wenn möglich, mussten sie die „Fahrkarte in den Tod“ selbst bezahlen. Der Auftraggeber
der Deportationszüge im Reichssicherheitshauptamt war der
SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann. Die Bahn sorgte für die Bereitstellung
der Züge, die Fahrpläne und den reibungslosen Verlauf der Fahrten. Schätzungen
zufolge wurden zwischen 1941 und 1945 etwa drei Millionen Menschen mit Zügen
der Deutschen Reichsbahn in Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslager
transportiert, erst in Personen- und Güter-, dann in Viehwaggons, oft unter
entsetzlichen Umständen.
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Güterwagen in der Gedenkstätte Yad Vashem (Israel)
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Mein Vater muss durch seine
Arbeit von den Militärtransporten zur Vorbereitung und Fortführung des Krieges und
auch von den Judentransporten und ihren Zielorten gewusst haben. Wahrscheinlich
erfuhr er auch über Hörensagen von Kollegen, was mit Juden in den Konzentrationslagern
geschah.
Später äußerte er sich nur
sehr zurückhaltend und allgemein über diese Themen; ich habe es unterlassen,
weiter nachzufragen.
Es war kein Geheimnis, was
die nationalsozialistischen Machthaber mit den Juden vorhatten. Schon am 30.
Januar 1939 – noch vor Kriegsbeginn - hatte Hitler in einer Reichstagrede „die
Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ nach dem Kriege „prophezeit“.
Politisch stand mein Vater
der SPD nahe, wie ein „unbelasteter“ Kollege (Nichtparteimitglied) im späteren
„Entnazifizierungsverfahren“ eidesstattlich versicherte. Er bezeugte auch die „demokratische Gesinnung“ meines Vaters, die er in Gesprächen mit ihm offengelegt habe.
Zunächst weigerte sich mein
Vater der NSDAP beizutreten, obwohl er als Beamter und Offizier unter dem Druck
stand, dies zu tun. Vor allem sein Vorgesetzter, Amtmann B., ein fanatischer
Anhänger des Regimes, übte in dieser Hinsicht massiven Druck auf die
Untergebenen aus. Anscheinend gelang es nur Kollegen in untergeordneten
Positionen sich diesem Druck zu entziehen. All dies belastete meinen Vater und
er ersuchte um Versetzung an einen anderen Ort und anderen Aufgabenbereich.
Daraufhin bestellte ihn Amtmann B. zu sich und eröffnete ihm, wenn er seinen bisherigen
Aufgaben nicht weiter nachkomme und nicht der Partei beitrete, werde er an die
Front versetzt. Angesichts des Zusammenwirkens der 0rgane des NS-Regimes und
ihrer Entschlossenheit, die nationalsozialistischen Ziele durchzusetzen, war
diese Drohung ernst zu nehmen.
Wie mein Vater mir erzählte,
entschied er sich gegen seine Überzeugung, aber mit Rücksicht auf seine Familie,
also auch auf uns Kinder, zu bleiben und trat 1940 der Partei bei. Er übernahm
dann die Aufgabe eines stellvertretenden „Blockwarts“, wobei sich diese Tätigkeit
darauf beschränkte, dass er Lebensmittelkarten im Wohnblock verteilte. Wie die
Spruchkammer im Entnazifizierungsverfahren auf Grund von Kollegenaussagen
feststellte, setzte er sich „niemals aktiv oder propagandistisch für die Partei“
ein. Gleichgesinnten Kollegen und Freunden gegenüber „ließ er erkennen, dass er
kein Anhänger des NS und mit der Politik desselben nicht einverstanden war“; so
äußerte er z. B., dass „Hitler diesen Krieg nie gewinnen könne“. Nach dem Krieg
war aber die Parteimitgliedschaft sehr nachteilig für ihn und uns, worüber ich
noch berichten werde.
5
Das Ende Breslaus
Bis Oktober 1944 blieb
Breslau von Luftangriffen verschont. Schlesien lag außerhalb der Reichweite der
britischen und amerikanischen Luftflotte. Dies änderte sich mit der Eroberung
Süd- und Mittelitaliens durch die Alliierten und dem Vorrücken der
sowjetrussischen Truppen. Von Italien aus stiegen amerikanische Bomberflugzeuge
auf und bombardierten Ziele in Schlesien.
Erst fielen nur wenige
Bomben in Breslau. Dies steigerte sich zusehends und zusammen mit den
Kampfhandlungen um und in dem im September 1941 zur „Festung“ erklärten Breslau
blieb bei der Kapitulation am 6. Mai 1945 eine Stadt in Trümmern zurück. Von
den am Schluss in der Stadt noch verbliebenen 150 000 bis 200 000 Einwohnern
überlebten mindestens 20 000 die Kämpfe nicht. Andere Schätzungen sprechen von
weitaus höheren Opfern in der Zivilbevölkerung. Tausende von deutschen und
sowjetischen Soldaten fielen. Hier schwanken die Angaben von 6 500 bis 12 000
bei den deutschen Truppen (samt "Volkssturm") und 7000 bis 33 000 bei den
sowjetischen Einheiten. Das war das Ergebnis des von der politischen und
militärischen Führung in Berlin und Breslau verordneten „Selbstmordes“ der
einst wirtschaftlich und kulturell blühenden, mit einem reichen historischen Erbe
und architektonischen Schätzen ausgestatteten Hauptstadt Schlesiens.
Gauleiter Karl Hanke, der
politisch Verantwortliche für Breslau, hatte angeordnet, dass die schlecht
vorbereitete Festung bis zum letzten Mann zu verteidigen sei und setzte dies
rigoros durch. Selbst Jugendliche und ältere Männer wurden zum von Hanke
kommandierten Volkssturm eingezogen und mussten bei der Verteidigung Hand
anlegen. Wer sich nicht fügte, hatte harte Strafen zu erwarten, auf Desertation
und „Feigheit vor dem Feind“ stand die standrechtliche Erschießung. Nicht
umsonst wurde Hanke als der „Henker von Breslau“ bezeichnet. Das prominenteste
Opfer seiner Maßnahmen war der stellvertretende Oberbürgermeister Spielhagen,
der zur Kapitulation geraten hatte und sich nach Berlin versetzen lassen wollte.
In der Bekanntmachung zur
Hinrichtung Spielhagens gab Hanke die Parole aus:
„Wer den Tod in Ehren
fürchtet, stirbt ihn in Schande!“
Selbst setzte sich Hanke, kurz
vor dem Fall der Stadt, mit einem entwendeten „Fieseler Storch“ (Kleinflugzeug)
ab.
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Wroclaw / Breslau 2013
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Fast wäre mein Vater auch
vor ein Standgericht gestellt worden, davon weiter unten.
Als Jugendlicher habe ich
habe meine Eltern gefragt, warum die meisten Deutschen diese Leiden so
widerspruchslos ertrugen und bis zuletzt an Hitler festhielten. Sie meinten,
man habe dem nationalsozialistischen System nicht entrinnen können, das
krakenartig alle Lebensgebiete im Griff hatte. Über die Haltung meines Vaters
habe ich schon berichtet. Meine Mutter war unpolitisch und regte sich vor allem
über die „Primitivität“ und „Unbildung“ der Parteibonzen auf. Ohne vom „Führer“
überzeugt gewesen zu sein, habe sie am Schluss gemeint, nur Hitler könne
Deutschland noch vor dem völligen Zusammenbruch retten. Hitler versprach ja
auch noch in seiner letzten Rundfunkansprache (30.01.45) den „Endsieg“ durch
den Einsatz von „Wunderwaffen“.
Tatsächlich wurden bis Ende
März 1945 über 3.000 V2-Raketen (V=Vergeltung ) mit Zielen in England, Belgien
und Frankreich abgefeuert. Zuletzt wurden sie von KZ-Häftlingen in
unterirdischen Anlagen im Kohnstein bei Nordhausen (Harz) hergestellt. Bei den Angriffen starben schätzungsweise
8.000 bis 12.000 Menschen, hauptsächlich in London und Antwerpen. Mehr Opfer
als der Einsatz forderte die Produktion der Raketen. Von den 60 000 Häftlingen
des KZ Mittelbau Dora kamen 20 000 durch unmenschliche Arbeitsbedingungen und
den Terror des SS-, Luftwaffen- und Zivilpersonals um. Auch Wernher von Braun
war hier tätig. Viele der Häftlinge waren Breslauer und Schlesier, die aus dem
KZ Groß-Rosen kamen (siehe oben).
Die Raketen konnten den
Krieg nicht wenden, führten aber zu verstärkten Bombenangriffen der Alliierten,
u.a. auf Nordhausen, das fast völlig zerstört wurde, wobei 8 800 Menschen
umkamen.
Nicht nur Hitler und sein
politisch-militärischer Apparat brachen Völker-, Kriegs- und Menschenrecht,
sondern auch die Alliierten. Aber Hitler und seine Kumpane hatten die Kriegsmaschinerie
in Gang gesetzt.
Da die nationalsozialistische
Propaganda ein schreckliches Bild davon zeichnete, was Alliierte und vor allem
Russen mit den Deutschen vorhätten, fürchtete man deren Sieg. (Leider hat sich später dann auch manches davon bestätigt.) Hinzu kam, dass staatliche
Medien bis zuletzt nur militärische Erfolge und Durchhalteparolen brachten. In
„Wochenschauen“ (Vorfilmen im Kino) wurde - untermalt von
dramatisch-triumphaler Musik - der „heldenhafte“ und angeblich „erfolgreiche“,
in Wirklichkeit sinnlose und längst verlorene Kampf um Breslau glorifiziert.
6
Auf der Flucht
Ich habe die Einkesselung, die
erbitterten Kämpfe um die Stadt, ihren Fall und das nachfolgende Chaos nicht
erlebt. Als die Bombardierungen anfingen, sollten Mütter mit Kindern Breslau
verlassen. Später, im Januar 1945, musste die übrige nicht wehrfähige
Bevölkerung die Stadt kurzfristig räumen. Dies setzte große Flüchtlingstrecks
in Bewegung, bei denen viele umkamen, vor allem Kinder, Kranke und Ältere.
Ich gebe wieder meiner
Mutter das Wort. Sie schreibt:
„Ich ging, da die Mütter mit
Kindern die Stadt verlassen sollten, mit Euch zu meinen Eltern nach Oels. Sie
hätten sonst fremde Leute aufnehmen müssen. Sie haben mir von ihrer
Vier-Zimmer-Wohnung zwei kleine Zimmer abgelassen. Es war für mich nicht
einfach mit den alten Leuten und Euch zu leben, mit getrennten
Lebensmittelkarten, auf denen jede Partie nur das Notwendigste an
Grundnahrungsmitteln zugeteilt bekam. Sonntags kam oft Vati dazu, auf Urlaub.
Dann wurde er von der Wehrmacht als überaltert entlassen und musste zuletzt als
Zivilist Flakdienst machen.
Jetzt kam die Kriegsfront
immer näher, der Russe stand 25 km mit den Panzern vor Oels. Die Bauern in der
Umgebung waren schon alle von Haus und Hof, das Vieh lief brüllend auf den
verschneiten Feldern umher, es war im Januar und es herrschte eine schneidende
Kälte. Die Oder und der Rhein waren zugefroren.
Da erschien Vati. Er hatte
gehört, dass Oels evakuiert werden sollte. Er kam, um uns noch einmal zu sehen und
instruierte uns, dass wir so schnell wie möglich einen Zug nehmen müssten, denn
bald würden keiner mehr fahren.
Er musste sofort wieder
zurück, er hatte sich unerlaubt vom Flakdienst entfernt. Am Bahnhof wurde er
von einer Streife verhaftet. Männer durften nicht umherlaufen, sie hatten an
der Front zu sein. Er entwischte ihnen aus der Hintertür und sprang auf einen
anfahrenden Zug, in dem er untertauchte. So kam er wieder nach Breslau zu
seiner Dienststelle und dem Flakdienst. Das hätte schief gehen können, denn
Deserteure wurden sofort erschossen.
Wir mussten binnen drei
Stunden die Stadt verlassen. Ich war wieder allein mit Euch und Ihr hattet die
Masern. Meine Eltern hatten schon vor uns das Haus verlassen.
Ich packte Hals über Kopf
einen Rucksack und zwei Koffer. Ich setzte Dich [meine
Schwester] in den Kindersportwagen, Wolfram musste daneben laufen. Den
Schlitten mit den Koffern zog ich hinterher, einen musste ich unterwegs
wegwerfen. So zogen wir zum überfüllten Bahnhof, kehrten aber noch einmal um,
weil Du unbedingt Deinen vergessenen Teddybären haben wolltest. In einem
vollgestopften Zug fuhren wir ins Ungewisse. Im Zug trafen wir auch meine
Eltern wieder.
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Meine Schwester mit Teddy und ich 1944
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Bahnhof von Olesnica / Oels 2013 - Von hier ging unser Fluchtzug 1945 ab. Vom Aussehen her ist das Bahnhofsgebäude im Krieg nicht zerstört worden.
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Unser Zug fuhr nach
Schweidnitz, einer kleinen mittelschlesischen Stadt. Dort angekommen, habe ich
Euch sofort mit Hilfe von Hitlerjungen ins Krankenhaus geschafft, es war ein
Wettrennen um die Plätze. Ich ging mit dem Gepäck, Kinderwagen, Schlitten … in
eine Schule, um dort auf Stroh zu übernachten. Inzwischen hatten sich meine
Eltern auch eingefunden. Mein Schlitten wurde gestohlen, aber ich habe ihn
wieder gefunden und an mich genommen. Viele Frauen, die ihre Kinder im
Krankenhaus hatten, übernachteten auf den Treppen und in den Fluren, weil man
nicht wusste, ob das Krankenhaus evakuiert würde. Zum Glück wohnte ein Vetter von mir in Schweidnitz,
der mich suchen ließ und auch fand. Er stellte uns ein Zimmer seiner großen
Wohnung zu Verfügung. Ich verzichtete zu Gunsten meiner Eltern. Eine Schwester
von ihm war im Krankenhaus tätig. Sie sollte auf Euch achtgeben und mich sofort
benachrichtigen, wenn das Krankenhaus evakuiert würde, in diesem Fall hätte sie
ja auch ihre Koffer bei ihrem Bruder holen müsse.
Ihr lagt zusammen in einem
Bett [ich war inzwischen wieder gesund] Dein Bruder tröstete
Dich ganz rührend, wie mir der Arzt sagte: ´Mutti kommt jeden Tag.`“
Ich kann mich an diese
Situation in dem wegen der Fliegerangriffe verdunkelten Raum erinnern. Ich
sprach zwar meiner Schwester Mut zu, aber fühlte mich selber verlassen und
hatte Angst, wir könnten von unserer Mutter getrennt werden. Das konnte ich mir
aber wegen meiner kleinen Schwester nicht anmerken lassen.
Meine Mutter fährt mit ihrem
Bericht fort:
"Kurz bevor Ihr entlassen
wurdet, bekam ich bei einer Schneiderin ein Zimmer, es war ihr Atelier. Sie war
sehr nett zu uns. Inzwischen fand uns auch Vati. Das war alles sehr einmalig
und ich sehe es als Gottes Fügung an. Die Breslauer Reichbahndirektion wurde
verlegt und kam in einem Zug in Schweidnitz an. Es war der letzte Zug, der von
Breslau abging."
Mein Vater hatte diesen Zug
mit Mühe und Not erreicht, wie er berichtete. Es musste alles sehr schnell
gehen. Er war immer etwas umständlich und so brauchte er viel Zeit, bis er
alles zusammen hatte, was er mitnehmen wollte. Es war im Endeffekt sehr wenig,
die notwendigste Kleidung und Toilettensachen, Dokumente ... Dann machte er Umwege zum Breslauer
Bahnhof, er wollte nicht wieder einer Streife in die Hände fallen. Wer weiß, ob
ihm sein Eisenbahnerausweis und ein Passierschein davor bewahrt hätte, sofort
wieder zum Volkssturm eingezogen zu werden.
„In Schweidnitz traf er meinen Vater [unseren Großvater] zufällig und hörte, dass wir auch dort gelandet waren; so erfuhr
er, wo wir untergekommen waren. Er kam auch noch in unserem Zimmer unter.
Nach acht Tagen fuhr die Direktion
mit einem Sonderzug nach Erfurt weiter. Ich habe mich mit Euch einfach mit in
den Zug gesetzt, obwohl das nicht erlaubt war. Die Chefsekretärin hatte ihre
Schwester mit vier Kindern mitgenommen und so konnte mir niemand etwas sagen.
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Dies ist der "Dienstzug" der Reichbahndirektion Breslau, mit dem wir nach Erfurt kamen. Die Fahrt von Breslau nach Erfurt dauerte vom 21. Januar bis zum 19. Februar 1945. Der Zug hatte nach Erfurt noch eine lange Irrfahrt vor sich. (Quelle: Verkehrsgeschichtliche Blätter, Heft 1, 2015, S. 15-19; Autor: H. Klammer)
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In Erfurt ging ich Straße
für Straße ein Zimmer suchen und fand sogar eine ganze Wohnung. Die Hausbesitzerin zog wegen der Luftangriffe weg zu ihrer Tochter
und sagte, sie hätte zu mir Vertrauen. Ich durfte sogar ihre Kellervorräte
nehmen und auch verschenken, nur auf die verlagerten Sachen müsste ich Acht
geben, die ihr nicht gehörten. [Es war üblich, Sachen
bei verschiedenen Verwandten und Bekannten einzulagern für den Fall, dass die
eigene Wohnung zerstört würde.] Die Mitbewohner des Hauses waren sehr nett, eine
hilfreiche Familie. Ich habe noch Breslauer Bekannten, dem alten Ehepaar
Altmann, mit Kartoffeln ausgeholfen, weil sie nichts zum Essen hatten.
Wir kamen allerdings nicht
zum Essen. Ehe die Kartoffeln weich waren, war Luftalarm und wir mussten in den
Keller. Pausenlos fielen die Bomben, es brannte nebenan und überall."
Diese Bombennacht ist mir
noch gut in Erinnerung. Nach dem „Voralarm“ gingen wir Kinder und meine
Mutter noch einmal vor das Haus. In der Ferne flogen die Flugzeuge an. Vom
Himmel schwebten hell leuchtende Gebilde. Ich sagte: "Schau mal Mutti, da
fallen Christbäume vom Himmel." Meine Mutter erklärte mir, dass dies
Leuchtkörper seien, mit denen die Bombardierungsziele markiert werden sollten.
Als die Sirenen wieder heulten, rannten wir schnell in den Hauskeller hinunter.
Die Türen wurden verschlossen. Vor den Fenstern waren Sandsäcke gestapelt
worden und es brannten nur einige schwache Glühbirnen, sodass in dem zum "Luftschutzraum" hergerichteten Kellerteil nur schummriges Licht herrschte.
Dort hatte die ganze Hausgemeinschaft Schutz gesucht. Stühle und Pritschen
waren aufgestellt worden, dazwischen standen Koffer. Am Brummen der Motoren
hörte man, dass die Flugzeuge näherkamen. Bald fielen Bomben. Ihr Aufprall
kündigte sich durch ein zischendes, pfeifendes Geräusch an. Dann kam der laute
Knall der Explosion. So ging es lange Zeit. Die Wände wackelten und das Licht
ging aus. Leute schrien, einige warfen sich auf die Erde und beteten laut.
Seltsamerweise hatte ich im
Gegensatz zu den Erwachsenen wenig Angst. Für mich war das alles verwunderlich
und eine Art großes Spektakel. Die Gefahr war mir wohl nicht bewusst.
Dann war es plötzlich ruhig,
die „Entwarnung“ kam und wir gingen aus dem Keller vor das Haus. Den Anblick
werde ich nie vergessen. Vor dem Angriff stand hier Haus an Haus. Unser Haus
war stehen geblieben, nur Fenster waren zerborsten, das Nachbarhaus und andere
lagen in Schutt und Asche. Überall rauchende oder brennende Trümmer. Außer den
Sprengbomben waren Brandbomben abgeworfen worden. Wir gingen wieder in unsere
Wohnung hinauf. Wir Kinder wurden ins Bett gebracht. Von den Rettungs- und
Aufräumarbeiten habe ich nichts mitbekommen, es wird ja viele Verschüttete und
Tote gegeben haben.
Der Angriff, den ich erlebt habe, muss der vom 25. Februar 1945 gewesen sein. Im Wikipedia Artikel "Luftangriffe auf Erfurt" heißt es:
"Am 25. Februar 1945 luden abends 59 Mosquitos [Jagdbomber] der RAF [Royal Air Force] 73 Tonnen
Brand-, Spreng- und Minenbomben über der Innenstadt ab. 288 Menschen
starben, davon 276 im Keller des Bibliotheksgebäudes des Augustinerklosters durch eine von zwei Minenbomben."
Meine Mutter berichtet:
„Als unser Nebenhaus
abbrannte, nahm ich einige Menschen auf, die total zerstört waren, tröstete
sie, richtete ihnen Betten und am Morgen ein Frühstück.
In Erfurt erlebten wir auch
den ersten Tieffliegerangriff. Ich ging mit Euch über die Straße, da kam blitzschnell
ein Tiefflieger und schoss. Wir sahen, wie er das Maschinengewehr auf uns
richtete, vorher hatte er danebengeschossen. Die Leute schrien. Ich sah ihm ins
Gesicht und er drückte nicht ab, ließ uns in ein Haus flüchten.“
Nach meiner Pensionierung
haben meine Frau und ich lange in Spanien gelebt, in Roses an der Costa Brava.
Im Rahmen meiner „Kulturspaziergänge“, die ich für Deutsche veranstaltete, habe
ich mich mit den Bombardierungen der deutschen „Legion Condor“ und der
italienischen „Aviazione Legionaria“ im Spanischen Bürgerkrieg befasst.
Das was Deutsche mit den Terrorangriffen auf Zivilisten in Guernica und viel
schlimmer in Figueres begonnen und mit dem Beschuss englischer Städte
fortgeführt hatten, fiel nun auf uns zurück. „Wer Wind sät, wird Sturm ernten.“
Meine Mutter erzählt weiter:
„Dann durften die
Eisenbahner, die Kinder hatten, in einem Güterzug nach Regensburg fahren.
Unterwegs Tieffliegerangriffe. Einmal hielt der Zug an, mitten auf dem Feld, es
war kein Angriff. Ihr wolltet aufs Töpfchen, mochtet im Zug nicht aufs Notklo
gehen. Andere stiegen auch aus. Ihr sasst auf den Töpfchen am Bahndamm. Da fuhr
der Zug plötzlich an.“
Ich erinnere mich, dass es
in dem Güterwaggon fürchterlich eng und dunkel war. Die Luken waren wegen der
Kälte mit Decken verhängt. Überall lagen oder standen Menschen herum, manche
alt und krank. Bedürfnisse wurden in einer Ecke auf Eimern erledigt. Wenn die
Tür nicht geöffnet war, stank es. Wenn man sie öffnete, zog es kalt herein und
Leute protestierten. Essen und Trinken war knapp. Man half sich aber gegenseitig
aus.
Auch an die Töpfchen-Szene erinnere ich mich. Als der Zug sich in Bewegung setzte, sprangen wir mitten in
unserem Geschäft vom Töpfchen auf, kullerten samt diesem einen Abhang hinunter
und rannten mit unseren Eltern schreiend zum Zug. Gerettet wurden wir, weil
sich zwei Frauen laut rufend an den Zug hängten, was der Lokomotivführer
bemerkte und Halt machte. An andere Vorfälle oder die Zwischenstationen erinnere ich mich nicht mehr, nur dass die Fahrt mir sehr lang vorkam.
Wahrscheinlich fuhren wir kreuz und quer durch Deutschland.
Auch hier kam das über uns,
was Juden und anderen Deportierten angetan wurde, nur dass es diesen viel
schlechter erging.
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Vertreibung 1945 (Bild: wikipedia.org)
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Zurück zum Bericht meiner
Mutter:
„Regensburg wurde ständig
angegriffen, aber in den drei Tagen, die wir dort waren, gab es keinen einzigen
Angriff. Vati meldete sich bei der Reichsbahndirektion Regensburg. Ich ging mit
Euch mit, und wie es der Zufall wollte, sprach mich der maßgebende Dezernent
an, als ich auf Euren Vater wartete. Ich benutzte die Gelegenheit, um ihm unser
Anliegen vorzutragen, endlich in eine kleine Stadt ohne Angriffe zu kommen. Er
beratschlagte sich sehr freundlich mit mir und stimmte zu, als ich Cham in der
Oberpfalz vorschlug. Als Vati dazukam, wollte er lieber in eine größere Stadt,
aber der Dezernent sagte, es sei alles schon bestens geregelt und er sollte
froh darüber sein. So wurde er zum Bahnhofsvorsteher in Cham ernannt. Er fuhr
dorthin vor uns ab. In Cham waren schon einige Eisenbahner aus Breslau da, was
ihm seinen Dienst erleichterte."
Hier möchte ich einflechten,
dass wir Kleinen es gar nicht so richtig mitbekamen, dass wir unseren Vater in
Cham wiedersehen würden. Für uns war es eine große Überraschung, als wir ihn am
Bahnhof in Cham antrafen.
7
Die Flucht endet in Cham / Oberpfalz
Meine Mutter erzählt weiter:
"Auch wir fuhren nach Cham
und wohnten dort ein paar Tage wieder in einer Schule, dann fand ich bei der
Familie M. auf dem Berg über der Stadt eine Wohnung.
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Meine Eltern und wir Geschwister 1946 vor dem Haus der Familie M. in Cham |
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So bietet sich Anwesen und Haus heute dem Blick dar |
Einmal noch, vor der
Übergabe der Stadt an die Amerikaner, war ein großer Angriff auf den Bahnhof,
weil dort ein Munitionszug stand. Viele Eisenbahner und andere waren tot. Vati hatte gerade keinen Dienst. Wir waren auf dem Berge geschützt, da
die Flieger über uns wegflogen und erst unten die Bomben warfen."
Der
Angriff auf den Bahnhof war am 18. April 1945, in aller Morgenfrühe. Außer den Eisenbahnern waren Einheimische, Soldaten und Flüchtlinge die Opfer, unter ihnen Schüler und ihr Lehrer, die aus dem Banat (heute Serbien) vor sowjetischen Truppen geflüchtet waren. Als die Jugendlichen unterwegs zum Volkssturm eingezogen werden sollten, war der Lehrer mit ihnen nach Cham geflohen. Alle hatten im Bahnhofsgebäude übernachtet, wahrscheinlich mit Erlaubnis meines Vaters. Bei dem Angriff liefen sie ins Freie. 7 von ihnen und ihr Lehrer wurden durch Bombensplitter getötet. Bei dem Angriff kamen 63 Menschen um. 46 Personen wurden verwundet. Das Bahnhofsgebäude blieb unbeschädigt.
Der Bahnhofsvorplatz trägt heute den Namen des Lehrers, Ludwig- Schwan-Platz.
Wieder einmal war mein Vater davongekommen.
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Denkmal zur Erinnerung an die Bombenopfer in Cham. Auf dem Mahnmal sind die Namen der Toten verzeichnet. (Bildquelle: www.marienrealschule-cham.de/bericht/denkmäler-rund-um-den-schulberg)
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Chamer Bahnareal nach dem nächtlichen Bombenangriff im April 1945. (Foto: Stadtarchiv Cham. Quelle: "Als die Amerikaner nach Cham kamen", "Mittelbayerische" vom 20.04.2015)
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Der Bahnhof Cham heute. Das Stationsgebäude war bei dem Angriff 1945 heil geblieben.
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"In Cham wohnten wir über ein
Jahr im Haus M. am Walde. Zu essen hatten wir dort genug, nur Obst gab es
nicht, dafür Milch, frische Eier, Brot und Fleisch, die wir von Bauern bekamen.
Ich musste sie mit dem wenigen Schmuck und anderen Habseligkeiten eintauschen,
die wir gerettet hatten.
Im Ort gab es eine nette
kleine evangelische Gemeinde mit Pfarrer N., der sich herzlich um uns bemühte. [Von
ihm wurden meine Schwester und ich getauft und ließen sich unsere Eltern
kirchlich trauen.] Aber auch ein junger katholischer Kaplan, unser Nachbar,
war sehr freundlich zu uns und war Euch sehr zugetan. Er hat oft auf Euch
aufgepasst, wenn ich hinunter in die Stadt musste und Euch vor den Buben der
Hausbesitzerfamilie bewahrt, die sich im ´Flegelalter` befanden. Sie waren
seine ´Messdiener`, aber spielten uns und Euch manchen bösen Streich.“
In Cham war ich 6 Jahre alt.
Während ich mich an die vorhergehende Flucht nur lückenhaft erinnere, habe ich
viele und klare Erinnerungen an diese Zeit.
Eindrücklich war für mich
ein Tieffliegerangriff. Meine Mutter, meine Schwester und ich kamen aus der
Stadt und stiegen einen Fußweg den Berg zu unserer Wohnung hinauf. Plötzlich stürzten
Tiefflieger auf uns herab. Andere Fußgänger versteckten sich in Buschlücken am
Wegrand. Alle Lücken waren besetzt und die Leute winkten uns zu, weiterzugehen.
Wir warfen uns in ein Brennnesselfeld weiter oben. Meine Schwester und ich schrien,
denn es brannte fürchterlich, aber unsere Mutter drückte uns nieder. Ein
Flugzeug flog ganz niedrig auf uns zu. Ich sah das Gesicht des Piloten mit Helm
und Schutzbrille. Er blickte auf uns hinunter - aber er drückte nicht ab, wie
schon in Erfurt erlebt.
8
Die
Amerikaner kommen
In Cham erlebten wir auch
den Einmarsch der Amerikaner. Es gab einzelne – sinnlose - Versuche sie
aufzuhalten – einer wird in dem Film „Die Brücke“ von Bernhard Wicki
dargestellt. Aber dank beherzter Bürger wurde die Stadt bis auf Ausnahmen kampflos
übergeben (23. April 1945). Auch aus einem Fenster unseres Hauses wehte eine weiße Flagge. Die
Türen waren auf.
Wir saßen im Keller, als die
Amerikaner kamen. Wir hörten, wie sie im Haus über uns herumtrampelten und
laute Rufe ausstießen. Dann rissen sie die Tür auf und kamen mit vorgehaltener
Waffe herein - junge Burschen, darunter ein Schwarzer (hatte ich noch nie
gesehen). Sie machten einen sehr aufgebrachten Eindruck. Barsch fragten sie, wo
die Männer seien und ob im Haus Waffen oder Munition lagerten. Meine
Mutter, die ein wenig Englisch sprach, sagte ihnen, hier gebe es keine Männer
und Waffen. Herr M., der Hausbesitzer,
der eine Nazi-Funktion bekleidete, hatte seine Uniform verbrannt und sich mit
anderen Nazis in die Wälder geschlagen. Mein Vater war nicht bei uns,
wahrscheinlich hatte er den Bahnhof übergeben. Ein GI nahm jemandem eine
Armbanduhr ab. Das löste einen heftigen Wortwechsel mit einem anderen Army-Mitglied
aus. Der Anblick von uns ängstlich blickenden Kindern beruhigte die Soldaten
schließlich und ließ sie freundlicher blicken. Sie strichen uns sogar über den
Kopf. Endlich zogen sie ab.
9
Die Entdeckung der Grausamkeiten an Häftlingen des KZ Flossenbürg. Todesurteile für Widerstandskämpfer. Das (Un-)Rechtssystem des Nationalsozialismus
Später fand ich heraus,
warum die Soldaten so aufgebracht waren. Sie hatten von SS geführte Häftlings-Marschkolonnen, die
aus dem KZ Flossenbürg und seinen Außenlagern kamen und das Lager selbst befreit. Die US-Soldaten fanden ca. 5000 erschossene und erschlagene Tote entlang der Routen der "Todesmärsche". Ein Teil der Toten war notdürftig verscharrt worden. Tausende von Zivilisten nahmen das Leiden und Sterben der Häftlinge wahr, meist mit ablehnender Gleichgültigkeit - wie Überlebende berichten. (Auch der Aufbau und Betrieb des KZ - an dem öffentliche Verwaltungen und Privatbetriebe beteiligt waren - konnte der einheimischen Bevölkerung nicht verborgen geblieben sein.) Zwischen 3000 und 4000 Häftlinge wurden am 23. April zwischen Stamsried und Cham von US-Soldaten befreit. (Recherche-Video hier)
Einige Tage später mussten
sich meine Eltern und andere Einwohner Chams an einem Sammelplatz einfinden und
wurden in Armee-Lastwagen weggefahren. Wahrscheinlich zwang man sie, eine der
Schreckensstätten in der Nähe zu besichtigen. Es kann aber auch sein, dass sie an der Exhumierung und Beisetzung von KZ-Häftlingen teilnehmen mussten. Meine Eltern kehrten mit versteinerten Gesichtern zurück. Mit
uns Kindern haben sie nicht über die Eindrücke, die sich ihnen
geboten haben, gesprochen. Wir haben nichts davon erfahren, was sich in der Nähe von Cham in und um das KZ Flossenbürg (heute Gedenkstätte) an Schrecklichem abspielte.
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Die Einwohner der Ortschaft Neunburg vorm
Wald in der Oberpfalz werden an den Leichen ermordeter KZ-Insassen
vorbeigeführt. Die Toten waren Häftlinge aus dem KZ Flossenbürg, die auf
dem Todesmarsch von Flossenbürg nach Dachau in der Nähe von Neunburg
von ihren Bewachern ermordet worden sind. Nur wenig später fanden
amerikanische Truppen die Toten. (Quelle - Bild und Text: SZPhoto) |
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Einer von 100 000 - Dietrich Bonhoeffer
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Am 9.April 1945 - kurz vor Ende des Krieges - wurde der 1906 in Breslau geborene bedeutende evangelische Theologe, Pastor Dietrich Bonhoeffer im Arresthof des KZ Flossenbürg auf brutale und entwürdigende Weise wegen seiner Beteiligung an Vorbereitungen zu Umsturz und Attentaten auf Hitler mit anderen Widerständlern hingerichtet - auf persönliche Anordnung des "Führers". (Bonhoeffers theologische Gedanken haben mich und meine theologischen Studiengenossen stark beeinflusst.) Das Bild zeigt ihn (zweiter von rechts) 1944 umgeben von gefangenen italienischen Offizieren im Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis Berlin-Tegel. In dieser Zeit verfasste er die Briefe und Aufzeichnungen, die unter dem Titel "Widerstand und Ergebung" später herausgegegeben wurden. Aus Berliner Gefängnissen wurde er ins KZ Buchenwald und dann ins KZ Flossenbürg überführt. (Bildquelle: hier) | |
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Hier in diesem Hof stand der Galgen, zu dem Bonhoeffer, Admiral Canaris (er wurde während der Standgerichtsverhandlung mißhandelt) und andere Prominente der am Widerstand Beteiligten völlig nackt geführt und gehängt wurden. Anschließend wurden ihre Leichen im Krematorium des KZ verbrannt und die Asche verstreut. Die Gefasstheit, mit der Bonhoeffer in den Tod ging, nötigte selbst dem dem sicher hartgesottenen SS-Lagerarzt Achtung ab. Bonhoeffers innere und äußere Haltung unter den Bedingungen der Haft ist erstaunlich. Von dieser Haltung und der Reaktion der Umgebung zeugt sein Gedicht "Wer bin ich?" (Bildquelle: Gedenkstätte Flossenbürg).
Der
Bundesgerichtshof - unter Beteiligung eines ehemaligen Nazi-Richters - rechtfertigte 1956 in einem Revisionsprozess die auch
schon ihrerzeit rechtswidrigen Standgerichtsurteile (Tod auf Grund
"Hoch-, Landes- und Kriegsverrats") mit dem Hinweis auf die damaligen Umstände und Rechtsverhältnisse. Der dem Standgericht vorsitzende Richter, SS-Sturmbannführer Dr. Otto Thorbeck, wurde vom Vorwurf der mehrfachen Beihilfe zum Mord freigesprochen - entgegen früheren Verurteilungen. Die
Urteile wurden erst 1996 bzw. 1998 öffentlich wirksam gerichtlich und durch Gesetz des Bundestags aufgehoben. Ein 1946 erlassenes bayrisches Gesetz, das die Urteile für nichtig erklärt hatte, war weitgehend unbeachtet geblieben. Für
die Standgerichtsurteile gilt, dass die von Hitler aus Rache
und politischen Motiven in Auftrag gegebenen Morde den Anschein der Rechtlichkeit haben sollten, wobei Juristen willig, systemkonform, unkritisch und, wenn erwartet, auch rechtswidrig mitwirkten. Dies und das "Versagen der Nachkriegsjustiz ist ein dunkles Kapitel in der deutschen Justizgeschichte und wird dies bleiben.“ (Günter Hirsch, damaliger Präsident des BGH in einer Rede zu 100. Geburtstag Hans von Dohnanyis, 2002; Hans von Dohnanyi, entlassener Richter am Reichsgericht, am Widerstand Beteiligter, Freund und Schwager Dietrich Bonhoeffers, wurde am 6. April 1945 im KZ Sachsenhausen von einem SS-Standgericht - unter demselben Ankläger und auf Grund derselben Anklage wie bei Bonhoeffer - auf Befehl Hitlers zum Tode verurteilt und hingerichtet.) Ich will hier einige Bemerkungen zum Rechtssystem im Nationalsozialismus anschließen. Wer Neonazis unterstützt und rechtsradikale Parteien wählt - aus welchen Gründen auch immer - sollte sich klar machen, dass uns ähnliche Verhältnisse wie unter der nationalsozialistischen Herrschaft blühen könnten, wenn sie an die Macht kämen. Auch wenn sie es unter modischen Mäntelchen verdecken, ihr Ziel ist es, die Gesellschaft nach Prinzipien umzugestalten, wie sie im Nationalsozialismus galten. Im Wesentlichen lässt sich das, was ich schreibe, mit dem belegen, was ich bisher geschildert habe.
Wie alle Bereiche des öffentlichen Lebens wurde auch die Justiz dem Regime, seinen Zielen und Vorstellungen unterworfen. Der nationalsozialistische Staat verstand sich durchaus als "Rechtsstaat", dies aber im Sinne seiner Rechtsauffassung. Sie war dadurch gekennzeichnet, dass die Interessen der "Volksgemeinschaft" denen des Individuums vorgeordnet wurden. Verschärft wurde dieser Grundsatz dadurch, dass nur derjenige als "Rechtsgenosse" anerkannt wurde, also auch Rechte hatte, der "Volksgenosse" und "deutschen Blutes" war (was er ab 1935 durch einen "Ahnenpass" nachweisen musste). Völkische Homogenität, Unterordnung unter den "Volkswillen", Einordnung in die "Volksgemeinschaft" sollte Liberalität, Diversität, Internationalität und Einzelinteressen ersetzen. Da das Regime und die Partei festlegten, was die Interessen der Volksgemeinschaft seien - die Möglichkeit einer pluralistischen Mitwirkung des Volkes, etwa parlamentarischer Art, war durch das "Ermächtigungsgesetz" (1933) abgeschafft worden - wurden die Rechtsverhältniss nach dem Gusto der an die Macht Gekommenen umgestaltet. Die Gewaltenteilung und und damit die Unabhängigkeit der Justiz wurden beseitigt, der "Führer", das Regime, seine Organe und Vertreter, ihre Politik bestimmten, was rechtens sei. Staatliche Ämter, die Gestapo und die Justiz waren eng miteinander verzahnt. Letztenendes diente das Rechtswesen nicht mehr dem nach humanen Werten und allgemein anerkannten Normen rechtlich geordneten Zusammenleben in der Gesellschaft und der Wahrung des Rechts der einzelnen Bürger, sondern dem Machterhalt der Nationalsozialisten. Dies
führte dazu, dass Gegner des Systems und diejenigen, die durch das
Raster des nationalsozialistischen Menschenbildes fielen, entrechtet
wurden. Die "Gleichschaltung" des Rechtswesens geschah unter Zwang, aber ein großer Teil der Juristen war bereit sich einzufügen. Sie erfuhren dadurch einen Geltungs- und Machtzuwachs, etwa wenn sie in die SS eingegliedert wurden; sie sollten und mussten dann aber auch im Sinne der Machthaber und des Systems funktionieren. Politisch-staatliche Verhältnisse, die die Gewaltenteilung, die Unabhängigkeit der Justiz einschränken oder sie aufheben und sie zum Diener von Machtgruppen und ihrer Politik machen, bringen Rechtsunsicherheit, Willkür in der Rechtsprechung, Tendenzurteile und juristische Übergriffe hervor. Eine der schlimmen Seiten im Leben unter dem Nationalsozialismus war die Rechtsunsicherheit. Sie betraf jeden - jedem konnte es passieren, dass er in Verdacht geriet und der Justiz überstellt wurde oder juristische Folgen tragen musste - es traf aber vor allem diejenigen, die sich nicht einfügten oder missliebig waren, wobei es oft schon genügte, irgendeinem zu missfallen. Es gibt keinen "guten" Nationalsozialismus und Hitler war kein "wohlmeinender" Diktator, der "das Beste" für sein Volk wollte, der dann aber "durchdrehte" oder dem andere in den Arm fielen. Der Nationalsozialismus war von Anfang an totalitär, machtgierig, rassistisch, gewalttätig, geschichtsrevisionistisch, kriegsbereit ... Alles andere war Taktik. Man konnte das wissen. 10So geht es in die Diktatur ...
Mit dem "Ermächtigungsgesetz" von 1933 gab der Reichstag und führende Kreise Deutschlands Hitler freie Bahn. Seine Zusage auf eine kontrollierte Anwendung des Gesetzes war ein leeres Versprechen. Die Hoffnung, ihn und seine Genossen in konstruktive Bahnen lenken zu können, täuschte. Ist ein diktatorisches Regime einmal installiert, wird es ihm immer darum gehen, seine Macht auszudehnen und zu erhalten, wenn es zweckdienlich erscheint auch zu missbrauchen - mit Beugung des Rechts, mit Verdrehung von Tatbeständen, mit Unterdrückung und Gewalt - das ist systemimmanent. Immer werden Autokraten und Diktatoren bestrebt sein, sich der Opponenten und Missliebigen zu entledigen. Man wird sie als "Kriminelle", "Kranke", "Verführte", "Staats-", "Volksfeinde", "Terroristen" darstellen und versuchen sie "auszmerzen" oder zu vertreiben. Man trifft Maßnahmen, die das öffentliche Leben und seine Einrichtungen unter die Kontrolle des Regimes bringen. Besonders wichtig ist es autokratischen oder diktatorishen Regimen, sich die Justiz dienstbar zu machen. Die Herrschenden werden sich das "Meinungsmonopol" sichern, denn das Volk muss ja "bei der Stange" gehalten werden, abweichende, kritische Gedanken und Bewegungen können nicht zugelassen werden oder sollen gar nicht erst aufkommen. Und immer werden die Machthaber ihre partiellen Interessen über die Orientierung am umfassenden Wohlergehen des Volkes stellen, obwohl sie stets behaupten dieses zu vertreten; sie werden nach eigenem Gutdünken handeln und - da unkontrolliert und undiskutiert - falsche und oft verhängnisvolle Entscheidungen treffen. Das alles müsste man aus der Geschichte gelernt haben und auch in der Gegenwart beobachten können. Doch leider zeigt der Blick in das Weltgeschehen, dass Menschen immer wieder den populistischen Parolen von Politikern, die sich als "starke Männer" präsentieren, Gehör schenken, ihren vollmundigen, aber unsicheren, illusionären oder gefährlichen Versprechungen - zu Auswegen aus Krisen, auf (Wieder-)Herstellung nationaler Größe, über die Schaffung von Sicherheit und die Aufwertung sich deklassiert Fühlender - unkritisch vertrauen und in der Hoffnung auf Einlösung der Versprechen bereit sind, den Weg der Führer in autokratische oder diktatorische Verhältnissen mitzugehen. Es kann in schwierigen Zeiten verlockend sein, einfach erscheinende totalitäre Lösungen und autoritäre Entscheidungen dem mühsamen Aushandeln von Beschlüssen in demokratischen Prozessen vorzuziehen, auch wenn diese mehr Beteiligung, Rationalität und Berücksichtigung unterschiedlicher Interessen versprechen.
Nach diesen Exkursen zurück zu meiner Kindheit in Cham: 11Die GIs waren freundlich zu uns KindernNachdem die Amerikaner Cham
besetzt hatten, mussten wir unsere Wohnung verlassen. Amerikanische Offiziere
zogen in die Villa ein und auch ein aus dem KZ befreiter Jude, Herr K. Wir
wurden in der auf dem Berge liegenden Wallfahrtskapelle einquartiert, wo wir
auf Decken schliefen. Bald durften wir aber zurückkehren. Die Amerikaner hatten
für uns „little nice children“ Schokolade in unserem Zimmer hinterlassen. Wie
uns Herr K. sagte, seien die M.-Jungen vor uns da gewesen und hätten die
Schokolade an sich genommen. „Großzügig“ gaben sie einige kleine Stücke an uns
ab. In der Folge gestaltete sich
das Verhältnis zwischen Besatzungsmacht und Einwohnern freundlicher -
wenigstens aus meiner kindlichen Perspektive. Meine Mutter machte die
Bekanntschaft mit einem jungen christlichen Amerikaner, der uns manchmal
Nahrungsmittel aus dem Bestand der Army brachte. Wenn wir in die Stadt gingen,
riefen amerikanische GIs hinter meiner kleinen Schwester her: „Hey, little
girl!“, zogen sie scherzhaft am Zopf und schenkten uns Kaugummi und Schokolade.
Auf meine Schwester muss die Nazi-Propaganda nachgewirkt haben, sie reagierte
meist unwirsch. Ich erinnere mich an den Ausspruch: „Ich mag dich nicht, du Meikaner!“
Mir war das gar nicht recht, denn ich profitierte vom niedlichen Aussehen
meiner Schwester.
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Das Ende der nationalsozialistischen Hybris: Amerikanische Soldaten beim Einmarsch in München. Sie entfernen das Ortsschild "München. Hauptstadt der Bewegung" (Bildquelle: Südddeutsche Zeitung) GI.s verteilen Süssigkeiten an Kinder (Bildquelle: BR 24) |
12
Kindheitserlebnisse
in Cham
Aus dieser Zeit wäre manches
zu erzählen, was nicht direkt mit Kriegsfolgen zu tun hatte. Nur eine
Geschichte: ich hatte schon erwähnt, dass meine Schwester bei der Flucht aus
Oels unbedingt ihren Teddybären mitnehmen wollte, ein Kerlchen mit Sepplhut und
Trachtenhose. Er hatte die Flucht bis Cham mit uns überstanden. Einmal gingen
wir hinter unserer Mutter her auf der Brücke über den Regen (Fluss), die im
Film „Die Brücke“ der umkämpfte Hauptschauplatz ist – ihre Sprengung war
verhindert worden. Wir stritten uns, wer den Teddy tragen sollte. Im
beiderseitigen Trotz setzen wir ihn am Brückengeländer ab und gingen weiter.
Als unsere Mutter das bemerkte, eilten wir wieder zurück, aber da war der Teddy
schon weg. Natürlich gab das Tränen.
Da unsere Eltern mit Arbeit
und Überlebensbemühungen beschäftigt waren, hatten sie wenig Zeit für uns
Kinder. Wir spielten oft vor dem Haus, im Garten oder auf dem langen
Treppenaufgang zum Haus, auf dessen Umfassungsmäuerchen interessante Insekten
krabbelten oder sich Eidechsen und Kreuzottern sonnten.
Manchmal nahmen mich die
älteren M.-Buben mit auf ihre „Streifzüge“. Das brachte mich in einige
gefährliche Situationen.
So ließen sie mich unter den
Zaun eines Army-Camps hindurchkriechen, um Konserven zu holen, die in einer
Grube mit überalterten Lebensmitteln verbrannt wurden. Das war hoch riskant,
denn das Personal auf den Wachtürmen hatte den Befehl auf Eindringlinge zu
schießen. Das „Unternehmen“ flog auf, als ich eine Dose nach Hause brachte.
Ein andermal war ich dabei,
wie sie herumliegende Munition einsammelten. Sie warfen sie in ein Feuer und
warteten hinter einer Mauer auf ihre Explosion.
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Hier zeigen sich die beiden M.-Jungen von ihrer freundlichen Seite - links in der Mitte meine Schwester und ich.
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Ich zog aber auch allein
durch die Gegend. Beeindruckt haben mich die Figuren und Stationen der
Leidensgeschichte Jesu auf dem Kreuzweg zur Kapelle auf dem Berge.
Einmal fuhr
ich mich einem kleinen Schlitten kopfüber den Weg zur Stadt hinunter und prallte gegen
eine Bank (die heute noch steht). Ich blieb ohnmächtig liegen. Leute, die
vorbeikamen, meldeten oben im Haus, da unten liege ein toter Junge. Als
meine Mutter mit anderen Leuten herunterkam, hatte ich mich schon wieder
aufgerappelt – offenbar ohne Schaden. Auf Befragen tat ich so, als wüsste ich
von nichts.
Ich muss öfters einen Schutzengel an der Seite gehabt haben.
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Kreuzigungsszene bei der Kapelle am Ende des Kreuzweges
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Die Kapelle am Kalvarienberg in Cham
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Blick ins Innere der Kapelle | | |
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Dies ist der Weg des Tieffliegerangriffs und der unglücklichen Schlittenfahrt - ganz unten rechts ist die Bank, an die ich geprallt bin.
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13
Hamstergänge
Wie meine Mutter schreibt:
richtige Not litten wir in Bayern nicht. Die Nahrungsmittel, die wir durch
Lebensmittelkarten zugeteilt bekamen, reichten nicht aus, um satt zu werden.
Das, was meine Mutter aufzählt und mehr, wurde durch „Hamstern“ beschafft,
obwohl das verboten war. Sonntags ging mein Vater über Land zu den verstreut liegenden
Bauernhöfen. Er nahm mich mit, denn ein kleiner magerer Junge erweckt Mitleid.
Beim Hamstern war mein Vater sehr erfolgreich.
Ein Erfolg
war nicht immer und nicht leicht zu erreichen. Kamen wir bei einem Bauernhof an,
mussten wir erst einmal den Hof überqueren. Da liefen kläffende und bissige
Hunde an Rollketten herum. Andere Tiere wie Gänse oder Schafböcke begrüßten uns
auch nicht gerade freundlich. So wurde mein Vater einmal von einem Hammel
fortgetragen, der ihn hinterrücks unterlaufen hatte. Der Ritt meines Vaters auf
dem Hammelrücken sah für mich sehr komisch aus, für ihn war das weniger lustig,
zumal er davon einige Schürfwunden an empfindlichen Teilen davontrug. Die
Bauern beobachteten das Ankunftsgeschehen auf dem Hof meist hinter den Fenstern
ohne einzugreifen, wahrscheinlich mit Schadenfreude. Hatten wir den
Kordon des tierischen „Empfangskomitees“ durchschritten, klopften wir an der
Tür an, und, wenn wir Glück hatten, wurden wir eingelassen.
Natürlich durfte man
nicht „mit der Tür ins Haus fallen“. Man musste erst einmal die Reserve durch
freundliches Gesprächsgeplänkel überwinden, über den schönen Hof, das Wetter,
die Feldarbeit, die Ernte, Klagen über die Zeit oder mit Neuigkeiten aus der
Stadt. War der Widerstand gebrochen, kam
man zur Sache: ob sie nicht etwas für eine hungrige Flüchtlingsfamilie mit
kleinen Kindern übrig hätten, Milch, Eier, Speck usw. Meist kam es dann zu
einem Tauschhandel. Geld war nichts wert, also bot man von dem wenigen, was man
gerettet oder - oft von Amerikanern - geschenkt bekommen hatte: Zigaretten,
Kaffee, Kleidung, Gold- oder Silbergegenstände … Manchmal hatte mein Vater zu
einer Bauernfamilie durch mehrfache Besuche eine freundliche Beziehung
aufgebaut und sie gaben aus Mitleid ab, ohne etwas dafür zu verlangen. Ich
entsinne mich auch, wie Bauersfrauen den Ofen öffneten und für „den Buam“ köstliche
Dampfnudeln hervorholten.
Einmal hatten wir eine
Martinsgans eingetauscht. Sie wurde lebendig im Rucksack verstaut. Auf dem
Heimweg begegnete uns ein „Landjäger“. Wir grüßten ihn freundlich und hofften,
dass das Tier sich ruhig verhalten würde. Sie schnatterte tatsächlich erst los,
als der Polizist vorüber war. Wahrscheinlich hat er beide Augen zugedrückt.
Als meine Frau und ich im
Oktober dieses Jahres von einer Reise nach Kroatien zurückfuhren, wurden wir
über Cham umgeleitet. Ich benutze die Gelegenheit, um die Stätten meines
Cham-Aufenthalts aufzusuchen. Tatsächlich fand ich alles dank meiner Erinnerung
wieder: die Villa der Familie M. (heute verlassen und überwuchert). Wir stiegen
den Kreuzweg zur Kapelle hinauf und verweilten in ihr. Auch auf den Weg zur
Stadt, wo uns die Tiefflieger angriffen, und auf die Unglücksbank blickten wir
hinunter. Das hat mich alles sehr bewegt und gab den aktuellen Anlass, diese
Erinnerungen niederzuschreiben.
14
Übersiedlung
nach Württemberg
Unser Aufenthalt in Cham hatte ein Ende, als mein Vater
nach Esslingen versetzt wurde. Meine Mutter berichtet:
„Von Cham wurde Vati nach
Stuttgart geholt, von seiner Direktion, die dort ihre Arbeit wieder aufgenommen
hatte. In der Abteilung Verkehrskontrolle wurde er als Fachmann wieder
gebraucht. Seine Breslauer Papiere waren bereits alle eingetroffen. Seine
Abteilung arbeitete erst in Esslingen. Er suchte dort eine Wohnung für uns,
fand aber keine. So wohnten wir im nahen Plochingen einige Zeit im Gasthaus zur
Krone und zogen dann in eine Flüchtlingsbaracke am Rande der Stadt, damals noch
ein Dorf. Anders kamen wir nicht unter. Es war für mich wieder nicht leicht. Es
kostete Nerven unter Menschen aus einfachsten Verhältnissen zu wohnen, die der
Krieg sehr egoistisch geprägt hatte. Als dann in der Güterabfertigung eine bescheidene
Dienstwohnung ausgebaut wurde und wir sie bekamen, hatten wir es leichter. Aber
auch dort lebten wir zuerst unter primitiven Umständen, in zwei Zimmern mit Kammer,
Flur und Klo, ohne Bad, ohne Heizung, nur mit einem Kochherd im
Wohn-Küchenraum. Wäsche musste mit der Hand gewaschen werden. Wir hatten alles
verloren und ich musste den Haushalt, so gut es ging, wieder aufbauen.
Vati fiel eine Zeit lang fast
ganz aus, da er erst von den Amerikanern interniert wurde, dann im
Eisenbahnausbesserungswerk Oberesslingen harte körperliche Arbeit leisten
musste und in der Folge zu Rehabilitierungsmaßnahmen abwesend war.
Es war Hungerzeit. Ich
pachtete von der Bahn einen Garten, den wir mit viel Arbeit herrichteten und in
dem wir Gemüse, Tomaten, Salat und Beeren anbauten. Obst bekamen wir von
Verwandten aus Stuttgart. Auch auf der Schwäbischen Alb hatte ich eine
Breslauer Freundin, von der ich ihre Lebensmittelkarten bekam. Sie brauchte sie
nicht, weil sie bei ihren Schwiegereltern in einer kleinen Landwirtschaft lebte.
Von den Nebenerwerbs- und Kleinbauern in Plochingen war nichts zu erwarten, sie
waren selber arm. Oft bin ich mit nur drei gekochten Kartoffeln in den Garten
umgraben gegangen, weil ihr sonst nichts gehabt hättet. Ich fuhr noch ein paar
Mal die weite Strecke nach Cham, um Mehl und einmal sogar eine Gans zu holen.
Unterstützung bekamen wir
von Mitgliedern der evangelischen Gemeinde, die manches Lebensnotwendige für
uns besorgten. Pfarrer K. stand uns als treuer Begleiter zur Seite, wie oft hat
er mich gut beraten und voller Freundschaft geholfen …“
15
Hungerzeit
Ich breche hier die
Schilderung meiner Mutter ab, die sich noch auf Zeiten erstreckt, in denen es
uns langsam wieder besser ging. Ich ergänze ihren knappen Bericht mit eigenen
Erinnerungen.
Auch ich erinnere mich an
Hunger und Kälte. In unserem neuen Lebensumfeld war es schwer, Nahrungsmittel
über die unzureichenden, durch Lebensmittelkarten zugeteilten Rationen hinaus
zu bekommen. Oft waren Mehl und Brot in den Läden schon ausgegangen, wenn wir
kamen. Fragten wir Landwirte, die ein paar Kühe oder Ziegen hielten, nach etwas
Milch oder anderen landwirtschaftlichen Produkten, war die Antwort: “Mir hen selber nix.“ Manchmal gaben uns dann einheimische Frauen, die meine Mutter über die Kirchengemeinde kennen gelernt hatte, von der kostbaren Milch ab, die sie von Bauern erhalten hatten.
Einmal stand ich vor meiner
Mutter und bat um eine Scheibe Brot. Sie verweigerte mir diese, da das Brot
noch die ganze Woche reichen musste. Ich sagte zornig zu ihr: „Wenn du einmal
alt bist, gebe ich dir auch nichts zu essen.“ Es fällt mir noch heute schwer,
altes Brot wegzuwerfen.
Morgens gab es eine dünne Mehlsuppe und Zichorienkaffee, ehe ich in die Schule ging. Im Winter herrschte im Raum eisige Kälte, die
Fensterscheiben waren gefroren und mit Eisblumen bedeckt. Glücklicherweise gab
es in der Schule Schulspeisung, von den Amerikanern, hauptsächlich warme Suppen
oder Nudeln mit kleinen Fleischeinlagen. Eine Lehrerin, Frau R., hatte Mitleid
mit uns und gab mir heimlich Reste in einem Blechbehälter mit. Da ich auf dem
Schulweg hin und her hüpfte, war oft die Hälfte im Schulranzen verschüttet,
wenn ich zu Hause ankam. Ein Fest war es, wenn uns – selten - ein Care-Paket
von amerikanischen Christen mit Grundnahrungsmitteln, Süßigkeiten und
Gebrauchsartikeln (z. B. Seife) zugeteilt wurde.
Es schien mir wie im
Schlaraffenland, als bei einer Erntedankfeier Brezeln aus Weißmehl und
Weintrauben auf einer Stange in die Kirche getragen wurden. Ich konnte es kaum
glauben, dass ich davon eine Brezel und einen Traubenstand abbekam.
Mit einer anderen
Eisenbahner-Flüchtlingsfamilie aus Schlesien, die im Bahnhof wohnte, Familie F., schlossen
wir Freundschaft und halfen uns gegenseitig aus, auch mit selbst produzierten
Lebensmitteln.
Um in den Genuss von Fleisch
zu kommen, hielten meine Eltern Karnickel. Jeder von uns Kindern bekam eins zur
Betreuung. Wir gaben ihnen Namen und liebten sie. Immer wieder verschwand
eines. Es hieß: „Wir mussten sie weggeben.“ Sonntags gab es dann Braten, ohne
dass wir wussten, woher der kam. Herr F. vom Bahnhof hatte die Tiere
geschlachtet. Seitdem kann ich Karnickelbraten nur mit einem untergründigen
Widerstand essen, obwohl er - gut zubereitet – auch mir schmeckt.
Wir Kinder versuchten uns
bei der Nahrungsbeschaffung nützlich zu machen. Wir trugen Mist in den Garten,
beschafften Gras für die Karnickel, gingen mit zum Bucheckern- und Pilze-Sammeln
in den Wald, pflückten Lindenblüten für Tee. (Die Bucheckern wurden in die Ölmühle gebracht und man erhielt Öl
dafür.) Auf den Bahngleisen sammelten wir Kohlen, wo sie von vorbeirollenden Kohlezügen
herabgefallen waren. Am "Kohleklau" von den Waggons, den viele betrieben, beteiligten wir uns als Eisenbahnerkinder nicht. Wir hatten zudem Respekt vor den Bahnpolizisten mit ihren scharfen Hunden, sie verwehrten uns auch das Überqueren der Geleise, wenn wir einen Abkürzungsweg zu unserem Garten nehmen wollten.
Im
Laufe der Zeit schlossen wir mit Einheimischen nähere
Bekanntschaft - meist Zugezogene. Ich denke gern an einige dieser Bekannten, die zu uns
standen, zurück. Bei unseren Besuchen bewunderte ich ihr intaktes
Zuhause. Unter ihnen war eine verwitwete Dame (immer schwarz gekleidet), Frau R., die aus Stuttgart nach Plochingen verzogen war. Es war für mich etwas
Besonders, wenn sie uns in ihrem vornehmen Wohnzimmer empfing. Auf einem Tisch stand immer ein Teller, gefüllt mit "Gutsle"
(kleines Gebäck). Das waren für uns Kinder ganz ungewohnte
Köstlichkeiten, auf die wir "zulangen" durften.
Trotz aller Bemühungen und
Zuwendungen waren wir Kinder unterernährt und krankheitsanfällig. Ich entsinne mich an einen Krankenhausaufenthalt in Esslingen auf Grund von "Diphterie-Bazillen" mit Mandelentfernung und an die Verschickung in ein "Kindererholungsheim" in Bad Friedrichshall-Jagstfeld. Das Heim habe ich in übler Erinnerung, dort wurden Kinder mit Regeln drangsaliert und mit Grießbrei gemästet. Bei diesen Aufenhalten kam ich mir verlassen und ausgesetzt vor. Eltern wurden damals von solchen Einrichtungen möglichst ferngehalten und der Umgang mit Kindern war wenig empathisch.
Unsere Eltern waren durch all die Strapazen gesundheilich ebenfalls beeinträchtigt, oft reizbar, wir wurden angehalten sie nicht durch "Widerspenstigkeit" "aufzuregen", vor allem nicht unsere Mutter, die Herzbeschwerden bekam. Außerdem hatten die schwierigen Verhältnisse die Beziehung der Eheleute belastet. In den Kriegs- und Nachkriegeszeiten lag oft die größte Last der Verantwortung auf den Frauen, die große Leistungen vollbrachten.
Auch in dieser Hinsicht war unsere Kindheit nicht unbekümmert.
16
Flüchtlingserfahrungen
Plochingen war im Krieg von Bombenangriffen verschont geblieben, obwohl es ein großer Einsenbahnknotenpunkt war. Die meisten Einheimischen konnten sich nicht vorstellen, was Vertriebene durchgemacht hatten. Dass auch sie einmal Hab und Gut besessen und in geordneten Verhältnissen gelebt hatten, schien ihnen kaum glaublich. Die Neuankömmlinge wurden als lästig empfunden.
In der „Volksschule“ war ich
als Flüchtling Außenseiter, schon von der Kleidung, aber auch von der Sprache
her. Alle sprachen Schwäbisch und ich bemühte mich so schnell wie möglich,
diesen Dialekt zu lernen. Auch die Schulsprache war Schwäbisch. Nur, wenn
„Lesen“ auf dem Stundenplan stand, sollte Hochdeutsch gesprochen werden. Der
Lehrer sagte dann: „So, jetzt schwätze mr nemme Schwäbisch, sondern wir
sprechen Hochdeutsch.“ Wenn das nicht so
recht gelang, hieß es: „Der Flüchtling soll lesen.“ Das hob nicht gerade meine
Beliebtheit.
Wenn etwas abhanden kam, war
es natürlich der Flüchtlingsjunge. So waren einmal die Handschuhe eines
Mitschülers verschwunden. Der Lehrer, eigentlich ein feinsinniger und
kränklicher Heimatforscher, Herr M., bezichtigte mich des Diebstahls. Meine
Mutter kam dann in die Schule, und es wurde eine Untersuchung angestellt. Es
stellte sich heraus, dass ein einheimischer Schüler, Fabrikantensohn, die
Handschuhe mitgenommen und weggeworfen hatte, um dem Besitzer einen Streich zu
spielen. Er hatte auch mich oft gehänselt und tyrannisiert. Weinend tat er dann
Abbitte und ließ mich in Zukunft in Ruhe.
Meine Mutter ließ sich
schließlich in den Elternbeirat wählen, auch um der Diskriminierung der
Flüchtlingskinder entgegenzutreten. Trotzdem versuchte der Klassenlehrer zu
verhindern, dass ich die Aufnahmeprüfung in die „Oberschule“ in
Esslingen machte. Er war der Meinung, es ginge nicht an, dass der "Flüchtling" die weiterführende Schule besuchte, wo doch nur ein Kind unter den einheimischen - eben der erwähnte Fabrikantensohn - dazu ausersehen sei.
Übrigens fiel es meinen Eltern nicht leicht, mich in die
Oberschule (heute: Gymnasium) zu schicken, da dies Schulgeld kostete.
Erwähnenswert ist noch, dass Disziplinierungsmaßnahmen und Einstellungen einiger Lehrer aus der Nazi-Zeit noch lange blieben.
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Schulklasse 4a der Volksschule Plochingen trägt bei einem Kinderfest den "Stock" zu Grabe, der bis dahin häufig gebraucht wurde. Ich bin in der rechten Reihe hinter dem Lehrer der zweite. | |
Bezeichnenderweise
hatte ich nach meiner Aufnahme in das Georgii-Gymnasium in Esslingen
kaum mehr Kontakt mit Plochinger Klassenkameraden. Meine Freunde kamen
nun aus dem Gymnasium, wobei die engsten auch Flüchtlinge waren.
Zeitweilig
besuchte ich die traditionsreiche Internatschule der Landeskirche im
Kloster Maulbronn. Sie war vor allem für Pfarrerssöhne vogesehen und das
Schulziel war, sie auf das Theologiestudium vorzubereiten. Ich
beeindruckte zwar meine Mitschüler mit meinem "unkoventionellen"
Verhalten, aber irgendwie passte ich nicht in das Milieu.
Meine Eltern und ich hatten den Eindruck, die Lehrkräfte hielten es für
unpassend, dass ein nicht aus einer alten württembergischen
Pfarrersfamilie stammender Zugezogener die Schule besuchte. Zumindest
erwartete man von einem solchen Aufgenommenen passendes Verhalten.
Nachdem ich
ein "Ultimatum" wegen heute lächerlich erscheinender Vorkommnisse
erhalten hatte, nahmen mich meine Eltern aus dem "Seminar" und ich ging
wieder ins Georgii-Gymnasium.
Doch zurück zu der frühen Plochinger Zeit.
Wir Geschwister spielten
allein oder mit anderen Flüchtlingskindern, die einheimischen Kinder schnitten
uns, bis auf einige, die auch Außenseiter waren.
Die „Barackenkinder“ bildeten eine Bande, in der ich mitlief und an nicht
immer koscheren „Spielen“ und Unternehmungen teilnahm. Die Eltern, auch unsere,
waren immer beschäftigt und so standen wir Kinder kaum unter Aufsicht. Die
Bande plünderte einmal einen Kirschbaum auf der Obstwiese vor der Baracke. Ich
war nicht mit auf den Baum geklettert, stand unten Wache, ließ mir aber einige
Kirschen schmecken, die mir herabgeworfen wurden. Als sich der Besitzer
näherte, flüchteten die anderen, älter und gewitzter als ich, mich hielt er fest,
verabreichte mir eine Tracht Prügel und zeigte mich und meine Eltern an. Unsere
Namen wurden mit denen anderer „Gesetzesübertreter“ auf Litfaßsäulen öffentlich
bekanntgegeben, mit Nennung des Vergehens: „Obstdiebstahl“. Natürlich hieß es
unter den Alteingesessenen: „Typisch, Flüchtlinge!“.
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Kindheitserfahrungen
Vieles von dem, was wir
unternahmen, war gefährlich. Wir sprangen vom „Teufelsbrückchen“ in einer
Waldschlucht auf Laubsäcke hinunter, krochen durch rattenverseuchte Abwässerkanäle,
schipperten auf zusammengebundenen Bohnenstangen über überschwemmtes
Gartengelände, ketteten das Boot des Neckar-Fischers los und trieben im Fluss,
schossen mit Pfeil und Bogen auf Katzen, turnten in Abstellschuppen herum,
bauten „Lager“ im Wald, suchten nach „Schätzen“ in verlassenen Gebäuden, riefen
dem hinkenden Bierkutscher Spottverse nach - wofür mir meine Eltern „den
Hintern versohlten“ – und anderes mehr.
Einige meiner Unternehmungen
brachten mich an den Rand des Todes.
Meine Schwester zog mich aus
den tosenden Wassern unter einem Wehr, in die ich gefallen war. Schwimmen
konnte ich noch nicht, das lernte ich im Neckar, wobei ich in gefährliche Nähe
der damals noch vorhandenen Stromschnellen geriet.
Ohne dass es meine Eltern wussten,
begleiteten ich und ein Freund einen Spediteur der Güterabfertigung bei Auslieferungsfahrten. Wir saßen auf der
offenen Ladefläche seines dreirädrigen Kleinlastwagens, der mit Holzkohle
betrieben wurde. Für unsere Hilfe beim Auf-, Abladen und Austragen der Pakete
erhielten wir 50 Pfennige. Nach einer Fahrt bei Kälte und strömenden Regen
erkrankte ich schwer an einer Lungenentzündung. Nur die auf dem Schwarzmarkt
besorgten Penicillin-Spritzen eines mit meinen Eltern befreundeten Arztes, Dr.
F., retteten mir das Leben. (Ich habe die Spritzen in den Hintern als äußerst
schmerzhaft in Erinnerung.)
Wir Nachkriegs- und
Flüchtlingskinder hatten eine Freiheit, die Kinder heute nicht mehr kennen.
(Sie unterliegen Gefahren, die wir kaum kannten, z.B. dem Verkehr - obwohl es auch schon damals Opfer gab. So begleitete meine Schulklasse einen Kameraden zum Grabe, der unter einen Lastwagen gekommen war.)
Hauptsache
war, dass wir um 8 Uhr abends zum Abendessen da waren. Sonst „setzte es etwas“.
Ich möchte die Erfahrungen dieses ärmlichen, ausgesetzten, aber in der freien Zeit ungebundenen
Kinderdaseins nicht missen, aber dass wir sie überlebt haben, ist ein wahres
Wunder.
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„Entnazifizierung“
Zuerst ließen die Amerikaner
meinen Vater unbehelligt. Im Zuge des „Gesetzes zur Befreiung vom
Nationalsozialismus und Militarismus“ vom 5. März 1946 wurde er als
Parteimitglied und Staatsbeamter als „belastet“ eingestuft und verlor seinen
Beamtenstatus. Er musste als Hilfsarbeiter bei geringster Entlohnung schwere
körperliche Arbeit leisten, was ihn bei seiner Konstitution an den Rand des
physischen und psychischen Ruins brachte. Ende 1947 wurde er vor eine „Spruchkammer“ geladen, die seinen Fall untersuchte. Er
wurde freigesprochen, wegen seiner Parteizugehörigkeit als „Mitläufer“
kategorisiert und musste ein „Sühnegeld“ von 50 Reichsmark und die
Gerichtskosten von 260 RM bezahlen. Das war verhältnismäßig wenig, aber bei
seinem geringen Einkommen doch belastend. Einige Zeit danach wurde er von der
Reichsbahn wieder als Inspektor eingesetzt.
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Spruchkammerbescheid bei der "Entnazifizierung" |
Mein Vater nahm das Urteil widerspruchlos
hin. Aber „mitgegangen, mitgefangen …“, das galt nicht für alle. Was ihn ärgerte,
war, dass andere, die das Nazi-System wesentlich mehr als er unterstützt
hatten, keine beruflichen Folgen auf sich nehmen mussten. Mit Hilfe von falschen
Angaben im Meldebogen und „Persilscheinen“ von Kumpanen, die ihnen eine „weiße Weste“
attestierten, galten sie nicht als belastet und konnten in ihren Ämtern
verbleiben. So wurde mein Vater zu einem leitenden Beamten in der
Reichsbahndirektion einbestellt, der durch die grob geknüpften Maschen des Entnazifierungsverfahrens geschlüpft war. Der drohte ihm dienstliche Nachteile an, wenn
er über seine – des Vorgesetzten - Vergangenheit nicht Schweigen bewahre.
Die Saat dieser Nazis, die
ihre rassistischen und faschistischen Einstellungen unter einem demokratischen
Deckmantel in der Nachkriegszeit verbargen und weiterverbreiteten, ist inzwischen aufgegangen.
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Die Nachkriegszeit geht zu Ende
Mit der „Währungsreform“
1948 und der Gründung der Bundesrepublik 1949 hatte der Hunger, die unsicheren
Verhältnisse und die Zwangsbewirtschaftung ein Ende. Ich erinnere mich, wie plötzlich
in den Schaufenstern der Läden all das auftauchte, was vorher nicht erreichbar
oder Mangelware gewesen war. Nur fehlte das Geld, um es zu kaufen. Es dauerte
lange, bis wir in einigermaßen zufriedenstellenden Verhältnissen leben konnten.
Den Wohn- und Lebensstandard, den meine Eltern im Vorkriegs-Breslau hatten,
erreichten sie nie mehr. Sie blieben „Vertriebene“ (laut Ausweis), die Heimat, Wohnung,
Vermögen und die Einbettung in gesellschaftliche und verwandtschaftliche
Beziehungen verloren hatten. Sie mussten in ihrem neuen Lebensumfeld weiter um
gesellschaftliche Anerkennung und die Sicherung der ökonomischen
Lebensgrundlagen kämpfen.
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Nach 5 Jahren Trennung 1950 ein erstes Wiedersehen mit unserer Oma aus der "Ostzone", in Plochingen. Im Hintergrund die Güterabfertigung, in der wir wohnten. Ganz rechts meine Schwester neben der Cousine Elke. Links stehe ich.
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Die alte Güterabfertigung in Plochingen (unsere Wohnung im Vordergrund oben). Das Gebäude existiert nicht mehr. ( Bild: www.bahnbilder.de / Claus Seifert)
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Meine Mutter hat akribisch
den Hausrat, das sonstige Vermögen in Breslau und den Wert in RM aufgelistet.
Es kam eine beachtliche Summe zusammen. Beim „Lastenausgleich“ 1952 – der sehr
viel Ärger bei den Besitzenden auslöste – erhielten meine Eltern einen geringen
Einheits-Pauschbetrag für den Hausrat und winzige Summen für Spar- und
Versicherungseinlagen. Andere, die Haus- und Grundbesitz nachweisen konnten, bekamen mehr.
Bei all diesen für sie einschneidenden
Verlusten infolge des Krieges hatten meine Eltern keinen „Flüchtlingskomplex“,
der sie in Trauer über das Verlorene verharren ließ oder gar zu
revanchistischen Forderungen brachte. Sie hielten das Andenken an Schlesien und
Ostpreußen (die Heimat meines Vaters) aufrecht und vermittelten auch uns Bezüge zu unseren
Herkunftslandschaften. Sie bemühten sich um Eingliederung in die neue Heimat –
etwa durch aktive Teilnahme an örtlichen Einrichtungen und Vereinigungen - und
förderten auch bei uns Kindern die Verbindung mit dem Umfeld, in dem wir nach
dem Kriege aufwuchsen.
Trotzdem habe ich mich nie
ganz mit dem „Schwabentum“ identifiziert, obwohl ich viel davon angenommen
habe. Zeit meines Lebens fühlte ich mich überall, wo ich länger lebte und mich
einfügte, untergründig „heimatlos“ und blieb irgendwie ein „Flüchtlingskind“.
Kriegserfahrungen, Flucht
und Nachkriegszeit haben uns Flüchtlingskinder geprägt, körperliche, psychische Spuren, Deformationen und Dispositionen
für das spätere Leben hinterlassen.
Weil ich am eigenen Leib
erfahren habe, was Kriege bedeuten, habe ich eine pazifistische
Grundeinstellung, für die ich auch aktiv eingetreten bin und die ich weiter
vertrete. Kriege sind immer schlimm und in unseren Zeiten und Umständen
besonders verwerflich und unzeitgemäß. Es gibt keinen „gerechten“ Krieg, denn Krieg
führt immer auf allen Seiten zu Hass, Lügen, Unmenschlichkeiten, Zerstörungen
und Folgeschäden. Heutige Kriege können in einem Inferno enden, das noch schlimmer
als der 2. Weltkrieg ist. Es sollte alles getan werden, um Kriege zu
verhindern. Es gibt immer andere Wege als Krieg.
Unsere Welt und jedes Land hätten es wahrhaftig nötiger, andere Probleme und Aufgaben zu bewältigen als Kriege zu führen oder zu unterstützen.
Ich kann die Kriegstreiberei nicht gutheißen, die manche deutsche Politiker und
Teile der Öffentlichkeit und Medien im Zusammenhang mit den Ukraine-Krieg praktizieren
oder befürworten. Wissen diejenigen, denen der Krieg gar nicht schnell genug
eskalieren kann, was „Krieg“ wirklich bedeutet? Machen sie sich klar, was
daraus werden kann?
Verstehen kann ich auch
nicht, wie Menschen Hitler und den "Nationalsozialismus" immer noch und wieder
glorifizieren oder rechtfertigen, ihre Verbrechen bagatellisieren und mit denen anderer aufrechnen. Sehen sie nicht oder wollen sie nicht sehen,
was dieses Regime für verheerende Auswirkungen hatte, nicht nur für andere Völker, sondern auch für uns Deutsche? Wie kann man sich wünschen, dass Verhältnisse wie unter den Nazis wiederkehren?
Auch das sind Gründe,
weshalb ich diese Erinnerungen und die damit verbundenen Recherchen als einer der noch lebenden Zeitzeugen niedergeschrieben
habe.