Donnerstag, 8. Juni 2023

Teil 2: Deutsche und Polen - Die Sichweisen divergieren

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Die Sicht der anderen - die nachgerückten Polen

Gerade lese ich ein interessantes Buch. Es erzählt die Erfahrungen der nach der Flucht/Vertreibung der Deutschen in Schlesien eingewanderten Polen.

Karolina Kuszyk: In den Häusern der anderen. Spuren deutscher Vergangenheit in Westpolen, Berlin 2022 (Ch.Links Verlag).

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Das polnische Original (links) und die deutsche Übersetzung von Karolina Kuszyks Buch (Bildquelle: Polskie Radio, Deutsche Redaktion)
 

Es war für die Deutschen schmerzlich, Heimat, Besitz und die vertrauten Dinge in den Wohnungen zurücklassen zu müssen. Hinzu kammen die Mißlichkeiten bei der Flucht und an den neuen Aufenthaltsorten. Einen Weg in die Ungewißheit, das "Unbehaustsein", die "Fremde" anzutreten - noch dazu unter Kriegsumständen - ist eine große Belastung. Ohne Zweifel waren die Vertreibung und die faktischen Enteignungen ein Unrecht. Das ist eine Sicht der Geschehnisse. Dies war die Sicht der Vertriebenenverbände in der Nachkriegszeit. Dabei wurde oft übersehen, dass die Vertreibung eine Folge dessen war, was Deutsche im Nationalsozialismus anderen angetan hatten. Es waren entsetzliche Grausamkeiten, die die Nazi-Machthaber, SS und deutsche Soldaten Juden, Polen, Russen und anderen zugefügt haben.  Die Zeugenaussagen liegen vor und sind nicht zu leugnen. So ist es nicht verwunderlich - wenn auch nicht zu rechtfertigen -, dass von polnischer, sowjetisch-russischer und anderer Seite oftmals barbarisch Rache geübt wurde. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf ein sorgfältig recherchiertes Buch mit ausgewogenem Urteil, das die Vertreibung der Deutschen aus Ostpreußen schildert, der Heimat meiner väterlichen Vorfahren: Hermann Pölking, Ostpreussen, Biographie einer Provinz, Berlin-Brandenburg 2012 (Be.bra Verlag). 

Ich möchte die von Deutschen begangenen Kriegsverbrechen nicht relativieren, aber man darf sich keinen Illusionen hingeben, Krieg enthemmt Kämpfende - und auch andere Beteiligte - immer und auf allen Seiten. Ausnahmen gibt es, aber sie verhindern nicht den jedem Kriegsgeschehen innewohnenden Sog zu Eskalation und Übergriffen. Rassistische Ideologie wie der Nationalsozialismus oder der als Mission der Sowjetunion aufgefasste stalinistische Kampf gegen den deutschen Faschismus radikalisieren die Enthemmungstendenz und liefern Tätern eine Rechtfertigung. Die Bereitschaft an Kriegen teilzunehmen lässt sich überhaupt nur durch ideologische Motive wecken und aufrechterhalten (Errichtung eines "Feindbildes", Begründungen wie "Vaterland", "unsere Werte" "verteidigen" ... ). 

Karolina Kuszyks Buch füllt eine Lücke oder Leerstelle in der deutschen Wahrnehmung von Flucht und Vertreibung aus. Es bestand in Deutschland lange kein großes Interesse daran, zur Kenntnis zu nehmen, wie es den Menschen ging, die in die von uns zurückgelassenen Gebiete einrückten, was sie in ihrer neuen Lebensumwelt fühlten, dachten und wie sie mit ihren neuen Lebensverhältnissen zurechtkamen. Man erfuhr und wusste bei uns bisher wenig darüber. Kuszyk schildert ausführlich und anschaulich Erfahrungen und Sicht der "anderen", der Polen, die, meist selbst aus ihrer ursprünglichen Heimat vertrieben, in den vorher deutschen Gebieten zwangsweise angesiedelt wurden.  Auch ihr Erleben und ihre Sichtweise gehört zu den Ereignissen der Kriegsfolgen und muss ergänzend zum Erleben und der Sichtweise der vertriebenen Deutschen gesehen werden.

Die "Wiedergewonnenen Gebiete", wie sie regierungsamtlich genannt wurden, waren für die Einwanderer "Neuland". Die angeführte "Piastenvergangenheit" lag lange zurück und bot keine lebendigen Anknüpfungspunkte mehr. Die Neusiedler fanden auch keine "Tabula rasa" vor, sondern ein Land voller deutscher Hinterlassenschaften. Niederschlesien war kein "wilder Westen", in dem sie (vermeintlich oder tatsächlich) unbelastet von fremder Vergangenheit ein neues Leben entsprechend ihrer Herkunft und Lebensweise hätten aufbauen können. Sie mussten sich im Vorgefundenen einrichten. Die meist Mittellosen waren darauf angewiesen, deutschen Besitz, deutsche Häuser und deutsche Gebrauchgegenstände zu übernehmen. Die polnische Regierung legalisierte dies, unter anderem durch den Verkauf des vorgefundenen und in Anspruch genommenen Besitzes. Damit zu leben, war nicht einfach für die Neuankömmlinge; der Umgang mit den "ehemals deutschen"(poniemieckie) Dingen löste zweispältige Gefühle aus. Er stellte die polnische Identität der neuen Eigentümer und Benutzer in Frage.  Zusammen mit der von der kommunistischen Regierung dekretierten "Repolonisierung"   der "Wiedergewonnenen Gebiete" führte das vielfach zur Zerstörung deutschen Kulturguts und oft sinnlosen Auslöschung von Erinnerungszeichen an die deutsche Vergangenheit. Verständlicherweise erinnerte man sich nicht gern an die deutschen Besatzer, wenn man aus der Ukraine oder Zentralpolen kam. Und manche Überbleibsel der Deutschen konnte man gut für andere Zwecke verwenden, zum Beispiel Friedhöfe und Grabsteine.

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Vertriebenendasein auch unter Polen: Polnische Familie nach Kriegsende in vermutlich ehemals deutscher Wohnung in Liegnitz/Legnica (?). (Bildquelle: ntv-Artikel)
 

Erst in der zweiten Generation begann man deutsche Hinterlassenschaften zu schätzen, Zeugnisse der deutschen Geschichte wiederherzustellen und zurückgelassene Gebrauchsgegenstände zu sammeln; es wurde geradezu Mode, nach verborgenen deutschen "Schätzen" zu suchen und vermuteten "Geheimnissen" nachzugehen - mit nach wie vor ambivalenten Gefühlen.

Vergegenwärtigt man sich all die Belastungen des deutsch-polnischen Verhältnisses, sind die oft schon frühen Bemühungen von Polen und Deutschen zur Versöhnung beizutragen und einen Schlusstrich unter die Vergangenheit zu ziehen umso mehr zu schätzen - unter ihnen die freundschaftlichen Beziehungen meiner Mutter zu der polnischen Familie in unserer früheren Breslauer Wohnung. Bei meinem Besuch in Wroclaw-Breslau habe ich erfahren, dass man mir als Deutschen freundlich und aufgeschlossen begegnet, auch die deutsche Vergangenheit nicht mehr unterschlägt, vieles davon restauriert hat, wobei durchaus wieder der deutsche Ursprung erkennbar ist.

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Gedenktafel am Geburtshaus Bonhoeffers, Bartel-Straße 7 in Breslau - zweisprachig (Bild: Wikipedia.org, Bonio)
 

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Die "alte Heimat" ist verloren ....

Die "alte Heimat", Lebensraum, in denen die zwangsweise Ausgesiedelten geboren wurden, aufwuchsen und einen großen Teil ihres Lebens verbracht hatten, wo ihre Vorfahren seit Generationen saßen, wo sie in Beziehungen zu Menschen, Dingen, Orten, Landschaften, Geschichte, persönlichen und überpersönlichen Geschichten und Traditionen standen, kurz wo sie sich "zuhause" fühlten, ist für sie verloren.  

Wir, die wir in den verlorenen Räumen geboren sind, aber uns nicht mehr in ihnen einleben konnten, mussten zwar auch eine vertraute Umgebung verlassen, aber Heimat wie für unsere Eltern war das nicht. Uns wurde die Möglichkeit genommen, in die für uns vorgesehene Heimat hineinzuwachsen. Zwar lebt die Herkunft in uns weiter, in Erinnerungen, Erzählungen, Bildern und wohl auch in physisch-psychischen Dispositionen. Aber das reicht nicht aus, um ein Heimatgefühl zu erzeugen. Hinzu kam, dass wir als junge Menschen, die eine Zukunft auf anderem Boden vor sich hatten, es eher belastend als lebensförderlich empfanden, auf eine Heimatwelt festgelegt zu werden, die wir als solche kaum bewußt wahrgenommen hatten und die nur noch in Erinnerungen oder Traditionspflege weiterlebte. Die    Ausgrenzung, die wir als Flüchtlinge erfuhren, war auch nicht dazu angetan, die Bindung  an unsere Herkunftsumstände zu fördern.  

So wurde uns das Schicksal auferlegt "heimatlos" zu sein - zumindest im territorial-regionalen und landsmannschaftlichen Sinne. Wo wir auch Fuß fassten, nie waren wir "Einheimische", nie konnten wir uns ganz mit Land, Leuten und ihren Besonderheiten identifizieren. Auch wir mussten - auf unsere Weise - Folgen des Verlustes der Heimat unserer Eltern tragen. (Ich sehe das aber nicht nur negativ. Wo andere an ihrer "Scholle" klebten, waren wir beweglicher und konnten überall unser Domizil aufschlagen. Außerdem öffneten wir uns größeren Zusammenschlüssen, wie Europa.)

Auch wenn die Vertreibung ein Unrecht mit schmerzlichen Folgen war - jede Forderung oder Bemühung zur Rückgewinnung der verlorenen Gebiete würde zu nichts als weiterem Unrecht führen. Es ist gut, dass deutsche Politik auf die verlorenen Ostgebiete verzichtet und die durch den Krieg geschaffenen Grenzen anerkannt hat. Nicht zuletzt hat die Evangelische Kirche in Deutschland mit ihrer "Ostdenkschrift" (1965) dazu beigetragen, indem sie nicht nur die Verletzung der Rechte der Vertriebenen anerkannte, sondern auch die berechtigten Interessen der östlichen Nachbarstaaten und damit das Bleiberecht der nach 1945 angesiedelten Bevölkerung in den Blickpunkt rückte. Statt gegenseitiger Schuldzuweisung, Revanche und Beharrung auf jeweiligen Rechtspositionen plädierten die Verfasser der EKD-Denkschrift für Ausgleich und Partnerschaft:

"Es gibt, auch ganz abgesehen von der Schuldfrage, berechtigte Interessen der Völker, zwischen denen eine gerechte Ordnung einen Ausgleich schaffen muß."

„Der wirkliche Neubeginn eines nachbarschaftlichen Verhältnisses kann nur in einer echten Partnerschaft bestehen, bei der auch die Wirklichkeit der gegenseitigen Schuldverstrickung ins Blickfeld tritt und die darum auch nicht auf einseitigen Akten der Vergeltung und der Gewalt basiert ..."

Mir war schon als Jugendlicher klar, dass die entstandenen Realitäten nicht mehr zu ändern sind und ein tragbares Verhältnis zu Polen nur mit dem Verzicht auf die alte Heimat hergestellt werden kann, obwohl mich das nicht hinderte, in jungen Jahren an Schlesiertreffen teilzunehmen und schlesisches sowie ostpreußisches Erbe geistig bis heute zu bewahren.

Blicke ich zurück auf das Verhältnis zu den Herkunftsregionen meiner Ursprungsfamilie, so stelle ich fest, dass sie mir in meiner Kindheit durch die Gegenwart und Erzählungen meiner Eltern und ihrer Schicksalsgenossen näher waren als später. Im Erwachsenenalter interessierten mich die Orte und Räume, in denen meine Eltern und Vorfahren lebten, wenig. Erst im Alter habe ich mich intensiver damit befasst. Heute fühle ich mich auf untergründige Weise mit den Generationen vor mir und der Erde, auf der sie ihr Leben gestalteten, verbunden. Wir existieren nicht nur als unabhängige Individuen, sondern sind auch in eine Generationenfolge eingebunden. Ich bemerke an mir und in mir Züge und Prägungen, die ich mit Vorfahren teile und selbst fortführe. Über die die Familiengeschichte hinaus nehmen wir an kollektiven Ereignisfolgen teil. Beides ist "schicksalhaft", fordert aber Auseinandersetzung und eine eigene Verhältnisbestimmung.

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... doch eine konstruktive Sichtweise ist möglich - und was sie verhindert

Verbunden fühle ich mich auch in einer übergreifenden Weise mit den Menschen, die heute dort leben, wo meine Eltern und Vorfahren ihr Zuhause hatten.  Die Heutigen leben auf gemeinsamen Grund mit ihren Vorgängern und sind mit ihnen in eine Geschichte verwoben, die zwar durch heftige Antagonismen, aber auch durch gemeinsame Bezüge und verbindende Zusammenhänge gekennzeichnet ist - abgesehen vom allgemein-menschlichen Irren und Sich-Bewähren, das alle Menschen verbindet. Lange hat man zwischen vertriebenen Deutschen und eingewanderten Polen die Differenzen, die gegensätzlichen Positionen, das anscheinend Unüberbrückbare hervorgehoben. Man kann auch die Perspektive ändern und das Verhältnis beider Kollektive zueinander als Schicksalgemeinschaft betrachten, in der ein angemessener Umgang miteinander Sensibilität, Verständnis, Dialog und gegenseitige Rücksichtnahme erfordert. Ich freue mich, dass ich diese Sichtweise in dem Buch der polnischen Autorin Kuszyk finde und ich teile sie mit ihr.

Für ein gutes Zusammenleben von Menschen ist es wichtiger, das Verbindende zu suchen, als das Trennende herauszustellen. Das gilt auch für das Verhältnis von Völkern untereinander. Nach den Verheerungen, die der auf Trennungen bedachte Nationalismus angerichtet hat, müsste es eigentlich unübersehbar sein, dass diese Ideologie ein Unheilsweg ist. Es gibt keine Nation, die nur stolz auf sich sein kann, kein Volk hat Grund sich selbst zu verklären und absolut zu setzen. Es führt zu keinen guten Ergebnissen, wenn das Bemühen um partnerschaftliche Verhältnisse zu anderen Völkern aufgegeben wird, um die Größe und das Selbstbild des eigenen Volkes zu erhöhen.

Schwer verständlich finde ich es dann, wenn die derzeitige nationalkonservative Regierung Polens wieder einen "bizarren" Nationalismus (H.J.Ginsburg) betreibt - mit dem "Feindbild Deutschland" - und die gigantische Summe von 1,3  Billionen Euro an Reparationszahlungen  für die im zweiten Weltkrieg von Deutschland angerichteten Schäden und Verbrechen fordert. 

(Link zu einem Aspekt der  offiziellen polnischen Sicht hier. Eine ausführlichere und differenzierte Darstellung der polnischen Position von einem Historiker hier. Der knappe und instruktive Artikel eines Rechtsanwaltes zeigt die Rechtslage, aber auch ihre Grenzen auf - hier.) 

Diese Schäden und die damit verbundenen Menschenrechtsverletzungen waren tatsächlich immens. 

"Es gibt kaum eine Familie an Oder und Weichsel, die nicht auf eine durch das Nazideutschland verursachte Tragödie zurückblicken würde."

schreibt der aus Polen stammende Blog-Redakteur Bogumił Pałka  und er wünscht sich, "es würde mehr ins Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit rücken", was die deutsche Besatzungszeit für Polen mit sich brachte.

Offenbar unterstützt ein großer Teil der polnischen Bevölkerung die Forderung nach Reparationen. Man meint, Deutschland sei "zu billig" weggekommen.  

Demonstrierende fordern 2018 vor der Kanzlei des Ministerpräsidenten in der polnischen Hauptstadt Warschau Reparationen. Quelle: ZDF / picture alliance/dpa / Bernd von Jutrczenka
 

Kriegsverbrechen verjähren nicht und man sollte sie auch nicht vergessen. Aber 78 Jahre nach Kriegsende dafür in dieser Weise dafür Entschädigungen zu verlangen, ist für mich ein revanchistischer Rückfall, nicht zukunfts-, europa- und versöhnungsorientiert - von anderen Einwänden abgesehen. 

Man könnte im Gegenzug zur Argumentation der polnischen Regierung darauf hinweisen - wenn man sich auf das unnütze Spiel des gegenseitigen Aufrechnens einlässt - dass durch die Vertreibung der Deutschen und die Aneignung deutschen Besitzes, darunter dem meiner Eltern, Großeltern und Vorfahren, immense Werte in polnischen Besitz übergegangen sind.  Auch die Vertreibung der Deutschen, die damit verbundenen Unrechtstaten und die Inbesitznahme deutschen Eigentums  verstießen gegen völker- und menschenrechtliche Bestimmungen (Recht auf Selbstbestimmung, Leben, Heimat und Besitz). Sie könnten rechtlich begründbare Entschädigungsforderungen  auf deutscher Seite nach sich ziehen. Darauf haben deutsche Regierungen besonnennerweise verzichtet. Auch der Mehrheit der noch lebenden Vertriebenen und ihren Nachkömmlingen - so auch meinen Eltern, mir und meinen Kindern - lag und liegt es ferne, solche überholte Forderungen zu stellen.

Aber was soll´s ? Das gegenseitige Aufrechnen von Unrecht und Verbrechen führt zu keiner Verbesserung des Verhältnisses von Polen und Deutschen. Es gibt andere Wege, das Polen, aber auch Deutschen angetane Unrecht anzuerkennen und aus dem Bannkreis alter Schuld herauszufinden als das Feilschen um unzeitgemäße Entschädigungszahlungen.

"Es geht nicht darum zu feilschen, wer denn mehr gelitten habe und welche Ansprüche berechtigter seien. Eine solche Auseinandersetzung würde keine Lösungen herbeiführen und erst recht keine Versöhnung." (Bogumił Pałka)

Der Autor meint, im Grunde ginge es vielen Polen, die Kriegsreparationen befürworten, nicht "unbedingt um das monetäre", sondern um die Förderung der Wahrnehmung und Anerkennung des den Polen angetanen Unrechts in der bundesrepublikanischen Gesellschaft.

Hierzu möchte ich fragen - als Wohlmeinender, nicht als "Besserwisser" - ob es nicht für die polnische Gesellschaft an der Zeit wäre, die Dauerfixierung auf die Kriegsereignisse kritisch zu reflektieren, um sie eventuell loslassen zu können und sie nicht immer weiter perpetuieren zu müssen. Polen hat es nicht mehr nötig, sich mit Hilfe eines Feindbildes zu konsolidieren! Ein solcher Prozess der Selbstbesinnung sollte allerdings nicht einseitig bleiben, sondern Selbstüberprüfung und taktvolles Entgegenkommen in Deutschland finden.

Ob die deutsche Regierung mit ihrer  - bisher unveröffentlichten - offensichtlich sehr formal abgefassten, rein rechtlich begründeten und wohl im harschen Ton gehaltenen Antwortnote auf die  Reparationsforderungen ("abgeschlossen") den hinter dem Komplex liegenden ernst zu nehmenden Motiven in Polen gerecht wurde, ist zweifelhaft. Sachlich mag die Ablehnung berechtigt gewesen sein, diplomatisch war sie nicht. Annäherung oder gar Versöhnung wird so nicht erreicht. Die politisch-rechtliche Frage der Reparationen lässt sich abschließen, das Bemühen um Menschlichkeit und Gerechtigkeit nicht!

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Nationalismus und Hegemoniestreben verhindern partnerschaftliche Zusammenarbeit

Es bleibt auf beiden Seiten einiges zu tun, um die divergierenden Sichtweisen auf die offenbar immer noch kollektiv "unbewältigte" Vergangenheit in ein tragfähiges Miteinander im "Projekt Europa" zu überführen. Beide Völker sind darauf angewiesen ihr Verhältnis zueinander zu klären und zu verbessern. Sie sind in vieler Hinsicht aufeinander angewiesen (Wirtschaft, Verteidigug, Integration der größten Minderheit in Polen - der Deutschen, grenznahe Zusammenarbeit u.a.) Polnischer Nationalismus, aber auch deutsches Hegemoniestreben sind ein Hindernis auf diesem Wege. Sie verhindern ein partnerschaftliches Verhältnis - und nur das führt aus den schwierigen Beziehungen, die zumindest die Politik beider Länder prägen (wirtschaftlich, im privaten und zwischgesellschaftlichen Raum läuft es besser). 

Glücklicherweise zeigt sich, dass nicht alle Polen dem nationalistischen und demokratische Prinzipien verletzenden Kurs ihrer Regierung folgen wollen. In Deutschland wächst das Verständnis für die polnische Befindlichkeit und die Notwendigkeit die Divergenzen zu überwinden. Das lässt mich hoffen, dass das politische Auseinanderdriften zweier Nachbarstaaten wieder zu einem Prozess der Annäherung gewendet werden kann, wie es der deutsch-polnische Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit von 1991 vorsah.

Dennoch: das Wiederaufleben nationalistischer und geschichtsrevisionistischer Bestrebungen in europäischen Staaten, zum Teil verbunden  mit Ansprüchen auf ehemals zugehörige Gebiete und der Forderung nach Wiederherstellung früherer Grenzen, auch in Deutschland durch Radikalrechte und "Reichsbürger", macht mir Sorge. Diese Bestrebungen sind geeignet, das für uns notwendige, mühsam errungene, aber zerbrechliche konstruktive und friedliche Zusammenleben in Europa zu untergraben.

 


 

  














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